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Gesellschaft

"Das Wort Jude ist ein Schimpfwort geworden"

3. September 2019

Die Auschwitz-Überlebende Anita Lasker-Wallfisch wird mit dem Deutschen Nationalpreis geehrt. In ihrer Dankesrede spricht sie über alten und neuen Antisemitismus, die vergiftende Wirkung von Hass – und über Hoffnung.

Berlin Deutscher Nationalpreis 2019 an Anita Lasker-Wallfisch Auschwitzüberlebende
Bild: picture-alliance/dpa/W. Kumm

"Gibt es ein Gegengift?", fragt Anita Lasker-Wallfisch angesichts des weit verbreiteten Antisemitismus. "Ich glaube nicht", sagt sie in ihrer Dankesrede für den Deutschen Nationalpreis, den sie am Dienstag in Berlin erhalten hat. Die Auszeichnung wird jährlich von der Deutschen Nationalstiftung vergeben. Damit würdigt sie Personen und Institutionen, die sich um die Ziele der Stiftung verdient machen. Im Mittelpunkt stehen die "Idee der deutschen Nation und die Bestimmung unserer nationalen Identität in einem geeinten Europa". So steht es im Gründungsaufruf aus dem Jahr 1993. 

Diese Leitgedanken, daran erinnert Alt-Bundespräsident Horst Köhler zu Beginn des Festaktes, dürfe man "weder extremen politischen Kräften noch den Gegnern der europäischen Integration überlassen". Mit seiner Mahnung zitiert Köhler ebenfalls aus dem 26 Jahre alten Gründungsaufruf, der eine "bedrückende Aktualität" habe. Den Gästen in der Französischen Friedrichstadtkirche auf dem Gendarmenmarkt ist klar, was gemeint ist: der Rechtsruck in Europa.

Anita Lasker-Wallfisch: "Wir werden berichten, was geschehen ist"

In Deutschland manifestierte er sich erneut am Sonntag mit den Erfolgen der Alternative für Deutschland (AfD) bei den Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen. Führende Köpfe der Partei haben eine rechtsextremistische Vergangenheit und fordern eine Kehrtwende in der deutschen Erinnerungspolitik. Eine Entwicklung, die Anita Lasker-Wallfisch lange für unmöglich gehalten hat.      

Anita Lasker-Wallfisch (r.) im Gespräch mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (M.) und Alt-Bundespräsident Horst KöhlerBild: picture-alliance/dpa/W. Kumm

Gemeinsam mit ihrer ebenfalls geretteten Schwester Renate sei sie überzeugt gewesen, sie würden die Welt verändern. "Wir werden berichten, was geschehen ist, und das wird das Ende von Antisemitismus sein." So naiv sei man, wenn man jung sei, sagt die 94-Jährige über ihre Hoffnungen vor 74 Jahren. Die Cellistin aus dem sogenannten Mädchenorchester in Auschwitz spricht von altem und neuem Antisemitismus. Er gehe zurück in die griechisch-römische Antike und blühe in einer "intoleranten, misanthropischen, fremdenfeindlichen Gesellschaft, in der wir leider heute leben".

"Unermüdliche Streiterin im Kampf gegen Antisemitismus"

Damals habe sie Deutschland mit dem Eid verlassen, nie wieder ihre Füße auf deutschen Boden zu setzen. Zum Glück sei alles "anders gelaufen". Sie wisse wie sinnlos Hass sei, "mit dem man sich letzten Endes selber vergiftet". Deshalb kehrt die in England lebende Anita Lasker-Wallfisch seit den 1980er Jahren doch immer wieder nach Deutschland zurück und erzählt vor allem in Schulen ihre Lebensgeschichte. Für dieses Engagement würdigt die Deutsche Nationalstiftung die Holocaust-Überlebende. Eine "unermüdliche, starke Streiterin im Kampf gegen Antisemitismus und Menschenfeindlichkeit".

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier: "Wer kann ermessen, was es heißt, als Überlebende zu sprechen?"Bild: picture-alliance/dpa/W. Kumm

Die Laudatio hält der amtierende Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Er sucht nach Antworten auf Fragen: "Wer kann ermessen, was es heißt, als Überlebende zu sprechen? Wie überhaupt kann man über das Erlebte sprechen, wenn die Sprache, die man gelernt hat, keine Worte dafür kennt?" Anita Lasker-Wallfisch wurde 1925 in Breslau geboren. Als Tochter einer deutsch-jüdischen Familie, in der Deutschsein hieß, "die Musik Bachs und Beethovens zu lieben". So hat es die Cellistin selbst einmal ausgedrückt - Steinmeier greift diese Worte auf. Und er fährt fort: "Man missbrauchte Musik als Taktgeber für Aufmärsche oder zur sentimentalen Erbauung von Mördern."

Bundespräsident Steinmeier erinnert an die Auschwitz-Prozesse 

Das Schweigen der Täter und Mitwisser, die Verdrängung von Schuld und das Scheitern von Trauer in Deutschland hätten die "Einsamkeit der Überlebenden" zu einer wirklich existenziellen Last werden lassen. Dass es gelungen sei, das Totschweigen in Deutschland zu brechen, "das verdanken wir Menschen wie Ihnen", sagt der Bundespräsident. Es habe "quälend lange" gedauert, bis sie gehört worden seien. Erst mit den Auschwitz-Prozessen Mitte der 1960er Jahre sei ein Ende des Schweigens auch in der deutschen Gesellschaft eingeleitet worden.

Lasker-Wallfisch

01:29

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Im Januar 2018 hielt Anita Lasker-Wallfisch im Deutschen Bundestag die zentrale Rede zum Holocaust-Gedenken. Als sie jetzt mit dem Deutschen Nationalpreis geehrt wird, sagt sie: "Das Wort Jude ist wieder ein Schimpfwort geworden." Der neue, moderne Antisemitismus sei "leider noch immer der alte". Man fühle sich nicht ganz sicher auf der Welt, jemand müsse Schuld daran haben - so beschreibt sie das uralte Sündenbock-Muster. Opfer damals wie heute: "Juden". Kaum ist ihr diese bittere Erkenntnis über die Lippen gekommen, richtet Anita Lasker-Wallfisch den Blick nach vorn. 

Am Ende erklingt "Glückseligkeit" von Dmitri Schostakowitschs    

Vor ein paar Tagen seien ihr zwei Briefe "ins Haus geflogen". Sie stammen von Schülern, die die KZ-Gedenkstätten Bergen-Belsen und Mittelbau-Dora besucht haben. "Intelligente, rührende Briefe, frei von allen Vorurteilen, ganz einfach menschlich." Nach ihrer Dankesrede spielt das Trio "NeuKlang" Dmitri Schostakowitschs "Wiegenlied" aus dem Zyklus "Aus jüdischer Volkspoesie". Es ist das dritte von fünf kurzen Stücken, die während der Feierstunde erklingen. "Klagelied" heißt das erste - die beiden letzten "Warnung" und "Glückseligkeit".

Der musikalische Rahmen ist ein akustisches Spiegelbild der jüdischen Geschichte, deren grausamstes Kapitel Anita Lasker-Wallfisch überlebt hat. Während sie und ihre Schwester mit dem Leben davon kamen, wurden die Eltern von den Nazis ermordet. Dennoch hat sich die Trägerin des Deutschen Nationalpreises ihre Zuversicht bewahrt: "Man soll die Hoffnung nicht aufgeben".

Marcel Fürstenau Autor und Reporter für Politik & Zeitgeschichte - Schwerpunkt: Deutschland
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