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LiteraturNordamerika

"National Book Awards" für Anja Kampmann?

16. November 2020

Kraftvoll katapultiert die Autorin Anja Kampmann den Leser auf die Ölbohrinseln. Ihr Debüt "Wie hoch die Wasser steigen" schlägt in den USA hohe Wellen.

Porträtfoto von Anja Kampmann mit langen rotblonden Haaren (Foto: Juliane Henrich).
Schriftstellerin Anja Kampmann ist für den National Book Award nominiertBild: Juliane Henrich

Anja Kampmann, geboren 1983, studierte am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig und machte sich mit Lyrik und Gedichtbänden einen Namen. "Wie hoch die Wasser steigen" über eine Männerfreundschaft auf Ölbohrinseln ist ihr Debütroman, für den sie bereits den Lessing-Förderpreis sowie den Mara-Cassens-Preis erhielt. Die englischsprachige Übersetzung ist nun "in der Kategorie Translated Literature" für den US-amerikanischen Literaturpreis "National Book Awards" nominiert, der am 18. November vergeben wird.

Deutsche Welle: In Ihrem Debütroman erzählen Sie die Geschichte eines Wanderarbeiters, der ruhelos von einer Ölbohrinsel zur nächsten anheuert. Wieso wählten Sie gerade das offene, raue Meer?

Anja Kampmann: Ich habe mich schon immer gefragt, was da draußen eigentlich passiert. In vielen Erzählungen gibt es diese alte Sehnsucht nach der Freiheit der Weltmeere - in meiner Familie wurde das auch so weitergegeben, ich stamme aus Hamburg, mein Urgroßvater war Kapitän auf Segel- und später Dampfschiffen. Das hat mich immer fasziniert. Wenn man aber den Arbeitern da draußen folgt, heutzutage, erfährt man allerdings eine ziemliche Desillusionierung. Die Freiheit der Weltmeere wird auf einer Ölbohrplattform quasi ad absurdum geführt.

Die Arbeit auf Hoher See ist wohl die extremste Art der Migrationsarbeit. Fernab und unerreichbar wie auf dem Mond - so unwirtlich liest es sich auch in Ihrem Buch.

Auf dem Mond arbeiten - das ist eigentlich schön gesagt. Das war tatsächlich auch eine Sache, die mir sehr wichtig war. Meine Hauptfigur Waclaw ist seit zwölf Jahren da draußen und letztlich vollkommen entrechtet. Man nimmt ihm sogar das Recht zur Trauer und auch das Recht, sich überhaupt menschlich darüber zu äußern, dass es einen Verlust gegeben hat …

…der Ausgangspunkt in "Wie hoch die Wasser steigen". Während einer stürmischen Nacht wird ein Mann vermisst, der Ungar Matyás, der beste Freund Ihrer polnisch-deutschen Hauptfigur Waclaw.

Die beiden haben jahrelang alles geteilt und ihre Freundschaft oder Liebe gibt dem ganzen Bedeutung. Waclaw und Matyás sind in dem System beide überhaupt nicht relevant, sondern werden einfach schnell ersetzt. Mich hat die Frage interessiert, was jemanden dazu bringt, sich dem auszusetzen. Welcher Traum dahinter steht - oder auch welche Notwendigkeit. Dass man eben rausgeht und so viel aufgibt, um Geld zu verdienen. Vielleicht war es zunächst eine Befreiung - aber was bedeutet diese Freiheit überhaupt?

Freiheit der Weltmeere? Auf Ölplattformen wie dieser hier im Mittelmeer leben die Arbeiter auf kleinstem RaumBild: Marc Israel Sellem/AP Photo/picture-alliance

Deutlich wird auch, wie hoch der Einsatz ist.

Ja, und auch dieses Gigantomanische, oder? Das Buch fängt ja auch mit einer Sturmnacht an. Überall Wellen und Meer, man sieht eigentlich nur dieses kleine Flackern - das sind aber Menschen, die mit irgendwelchen abgedrehten Bohrern in 1000 Metern Tiefe nach Öl suchen. Mit dem Recht, sich das zu nehmen. Das ist, wenn man einmal anfängt darüber nachzudenken, völlig irrsinnig. Und dennoch sind wir alle davon abhängig.

Ihre Hauptfigur kann nach dem Tod des Freundes nicht mehr wie bisher weitermachen und begibt sich auf eine Odyssee durch Europa, besucht Erinnerungsorte seines Freundes und auch eigene. Wonach sucht er eigentlich?

Waclaw ist ja eine Figur, die mit polnischem Hintergrund im Ruhrgebiet aufgewachsen ist und versucht, dieser gefühlten Enge der Bergarbeitersiedlung zu entkommen. Im Laufe des Buches kriegt man aber auch mit, dass es gleichzeitig eine Sehnsucht danach gibt; da ist zum Beispiel das regelmäßige Geräusch der Gardinenstange abends um halb zehn. Als Junge hat Waclaw das gar nicht ausgehalten, doch wenn man wie er in einem Umfeld arbeitet, wo die Crew auf den Plattformen jedes Mal eine andere ist, wo man keinerlei Spuren hinterlässt, sondern zwischen Kontinenten und Weltmeeren hin- und herfährt, dann ist natürlich dieses geschlossene Leben in so einer Arbeitersiedlung vielleicht auch wieder ein Sehnsuchtspunkt.

Sie haben eine besondere Erzählform für diesen Roman gefunden. Jeder Satz sitzt. Häufig hat man das Bedürfnis, das Buch zur Seite zu legen und die Sprache nachwirken zu lassen. Lyrik und harte Männerwelten - wie passt das zusammen?

Ich habe mich sehr bewusst dafür entschieden. Die erste Erwartung an das Sujet ist natürlich, dass man in so einen rauen Tonfall verfällt und irgendwie im Sinne eines vermeintlichen Realismus versucht, abzubilden, wie die Männer sprechen. Mir ging es aber eher darum, einen Ort in der Sprache zu schaffen. Ich glaube, der einzige feste Ort, den es in diesem Buch gibt, ist das Erzählen. Und diese Räume, die sich in der Sprache öffnen.

Zutritt zu Ölbohrinseln wurde Anja Kampmann verwehrt. Daher schickten ihr Arbeiter HandyvideosBild: Juliane Henrich

Wie sind Sie bei der Recherche vorgegangen? Ölbohrinseln kann man vermutlich nicht einfach so besuchen?

Ich habe unendlich viel recherchiert, mich über Bohrtechnik belesen. Ungefähr dreieinhalb Jahre habe ich eine Art E-Mail-Krieg mit allen möglichen Pressevertretern von Erdölförderungen geführt, die ich überreden wollte, mich da mit draufzulassen - was aber fast unmöglich ist, weil man erst einen Helikopter-Sicherheitsschein braucht, der relativ teuer ist, und dann wird man trotzdem abgewimmelt. Darin sind die sehr gut. Ich habe mir dann die Bohrung an Land auf Gas-Feldern angeguckt. Das ist dasselbe Prinzip, nur eben ein bisschen größer. Außerdem habe ich meine Interviewpartner, die auf der ganzen Welt gearbeitet haben, gebeten, mir Kabinen-Videos und Fotos zu schicken.

Ölkatastrophe auf der "Deepwater Horizon" 2010Bild: Reuters/U.S. Coast Guard

Wie sind Sie in Kontakt mit diesen Arbeitern gekommen?

Vor etwa zehn Jahren hatte ich ein Stipendium in Iowa, das International Writing Program. In dieser Zeit gab es große Unfälle, etwa auf der "Deepwater Horizon" im Golf von Mexiko. Damals habe ich das erste Mal Leute interviewen können, die auf Offshore-Plattformen gearbeitet haben. Und habe dann gemerkt, dass mich das irgendwie gar nicht mehr loslässt.

Ihr Debüt war bereits für den Deutschen Buchpreis und den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Nun folgte gar die Nominierung für den US-amerikanischen Literaturpreis National Book Award.

Darüber freue ich mich einfach wahnsinnig. So kommt das Buch noch mal auf einen Markt, der von den Themen wie weltweiter Leiharbeit und dem Umgang mit Ressourcen noch viel stärker betroffen ist. Es ist natürlich ein großes Verdienst der Übersetzerin Anne Posten, mit der mich nicht nur eine längere Arbeitsbeziehung, sondern auch eine Freundschaft verbindet. Sie hat in den vergangenen Jahren schon viele Gedichte von mir übersetzt und war auf die Sprache mehr als vorbereitet. Dann habe ich ihr aber noch sehr viel über technische Sachen erzählt, die ich mir erschlossen habe. Wir haben uns viele technische Zeichnungen, Fotos und Skizzen hin- und hergeschickt.

Kampmanns Debüt erschien 2018. Die englische Übersetzung ist jetzt für den National Book Award nominiert

Ihr Buch ist im September in den USA erschienen, wahrlich stürmische Zeiten jenseits des Atlantiks.

Ich finde es schon verrückt, dass das Buch dort gerade in diesem Krisenjahr erscheint. Das ist ja auch ein Buch, das klassische Männerrollen stark hinterfragt. In den Medien ist ja dieses Macho-Bild vom Präsidenten sehr stark. Leider ist die Lesereise an der Ost- und Westküste pandemiebedingt abgesagt worden. Auch die Gala für die Finalisten des National Book Award wird online stattfinden.

Das Interview führte Nadine Wojcik.

Anja Kampmann: Wie hoch die Wasser steigen, Carl Hanser Verlag, München 2018, 352 Seiten

 

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