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Ankara auf dem Weg in die Autokratie

Barbara Wesel 21. Juli 2016

Gerade wurde der Ausnahmezustand verhängt, nun die Menschenrechts-Konvention ausgesetzt. Die meisten EU-Staaten wollen keinen Konflikt mit Ankara, doch die Sorge vor einer Diktatur wächst. Aus Brüssel Barbara Wesel.

In türkische Flagge eingehüllter Mann von hinten Foto: Getty Images/AFP/H. Onur Sandal)
Bild: Getty Images/AFP/H. Onur Sandal

Österreichs Außenminister Sebastian Kurz hat den türkischen Botschafter einbestellt, um sich die Entwicklung im Land von ihm erklären zu lassen. Wien ärgert sich über heimische Pro-Erdogan Demonstrationen in den vergangenen Tagen, die in Gewalt gegen ein kurdisches Restaurant mündeten.

"Wir haben Hinweise darauf, dass die Aufforderungen direkt aus der Türkei gekommen sind", so der österreichische Außenminister vor der Presse. Außerdem sagte er in einem Interview mit dem "Spiegel", Europa dürfe nicht schwach erscheinen und "um jeden Preis" an dem Flüchtlings-Deal mit der Türkei festhalten. Wenn der scheitere, müsse man den Schutz der Außengrenzen selbst in die Hand nehmen.

Auch Belgien hat den türkischen Botschafter einbestellt, weil dieser einen flämischen Abgeordneten beschuldigt hatte, mit dem Putsch zu tun zu haben.

Beitrittsgespräche wieder auf Eis?

Gleich zu Beginn der Woche hatte die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini klar gestellt, dass die Wiedereinführung der Todesstrafe in der Türkei das Ende der Beitrittsverhandlungen bedeuten würde. Und der dafür zuständige Kommissar Johannes Hahn hatte deutlich gemacht, daß er die Säuberungswelle für geplant hält.

Die Listen mit Tausenden von Namen müssten längst in den Schubladen gelegen haben, keine Verwaltung könne so schnell reagieren, mutmaßte Hahn. Konservative Europaabgeordnete plädierten weiter dafür, die Gespräche nicht vorschnell zu beenden, sie böten die einzige Möglichkeit, Einfluss auszuüben. Vertreter von Linken und Grünen dagegen fordern inzwischen den Abbruch der Gespräche.

Die EU plädiert bisher erfolglos, die Türkei solle demokratische Werte wahrenBild: Getty Images/AFP/A. Messinis

Was wird aus dem Flüchtlingsabkommen?

Bis Ende September sollen bereits zwei Milliarden Euro für Hilfsprojekte im Rahmen des Flüchtlingsabkommens ausgezahlt sein. Sie kommen direkt den Syrern in der Türkei zugute, erklärte zuletzt die EU-Kommission. Insgesamt sind drei Milliarden Euro zugesagt, und Brüssel will an dem Abkommen festhalten. Bisher gebe es auch keine Hinweise, dass die Türkei ihre Verpflichtungen nicht erfüllte.

Aber wie es weitergeht, ist strittig: Der deutsche Kommissar Günther Oettinger etwa hat die Visabefreiung für türkische Bürger, die als eine der Voraussetzungen für die Erfüllung des Flüchtings-Paktes gilt, für dieses Jahr schon ausgeschlossen. Der türkische Präsident Erdogan aber verknüpft beide Zusagen miteinander: Ohne Visafreiheit kein Flüchtlings-Abkommen.

Im Europarlament sind diese Zusagen angesichts der Mehrheitsverhältnisse kaum durchsetzbar. Die niederländische Sozialdemokratin Kati Piri etwa hält die Hindernisse inzwischen für unüberwindbar. Teile der Konservativen versuchen den Deal noch zu retten, aber selbst Christdemokrat Elmar Brok warnte vor einer drohenden "Putinisierung" der Türkei. Er hoffe, dass das geplante Treffen zwischen Erdogan und Putin kein "Festival der Autokraten" werde.

Spannungen bei den Nachbarn

Während die meisten europäischen Hauptstädte sich bisher darauf beschränken, in unterschiedlicher Intensität ihre Sorgen auszudrücken, hat Bulgarien als Nachbarland der Türkei die Grenzpatrouillen und seinen Bürger von Reisen dorthin abgeraten.

Auch in Griechenland verstärken sich die Spannungen: Die acht nach dem gescheiterten Putsch geflüchteten türkischen Offiziere wurden inzwischen aus Sicherheitsgründen ins Inland verlegt, bis über ihren Asylantrag entschieden ist. Am Mittwoch sorgten Meldungen über mutmaßliche türkische Schiffe in der Nähe der griechischen Insel Simi für Unruhe. Und die Lösung des Zypernproblems, das so nahe schien, rückt wieder in die Ferne. Überhaupt fürchtet Athen die Rückkehr der jahrzehntealten Spannungen mit Ankara, besonders in der Flüchtlingsfrage.

Tayyib Erdogan und EP Präsident Martin Schulz - ein Bild aus der Vergangenheit?Bild: picture-alliance/epa/J. Warnand

Demokratie und Westbindung fallen zum Opfer

Der frühere EU-Botschafter in der Türkei, Marc Pierini, sieht im Hintergrund eine Kehrtwende im Denken von Präsident Erdogan. Lange hätten die europäischen Normen – von der Meinungsfreiheit bis zur Wettbewerbspolitik – als das Maß aller Dinge gegolten, sagt Pierini, Fellow bei Carnegie Europe.

Heute jedoch sei die EU in den Augen Erdogans nur noch ein Hindernis auf dem Marsch zu einer reinen Präsidialherrschaft und die Mitgliedschaft für Erdogan deshalb kein strategisches Ziel mehr. Allerdings, so glaubt Pierini, werde der türkische Präsident das Flüchtlingsabkommen weiter einhalten, solange es beiden Seiten nützt.

Die zahlreichen Aufrufe zur Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit aber hält Pierini für zwecklos: Zum einen, weil der Putsch beinahe erfolgreich gewesen wäre, und schon deshalb eine Kette von Racheaktionen auslöse. Und zum zweiten, "weil der fehlgeschlagene Putsch eine goldene Möglichkeit für den Präsidenten bietet, seine Macht zu stärken". Das könne auch Neuwahlen bedeuten und eine Zweidrittel-Mehrheit im Parlament, um eine neue Verfassung zu verabschieden. "Die Demokratie und die Westbindung der Türkei könnten die ersten Opfer des Putsches werden".

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