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Gesellschaft

Wenn die Tochter zum Islam konvertiert

Esther Felden
31. Mai 2019

Elke Müller kämpft um ihre Tochter. Anna ist zum Islam konvertiert, weil sie sich in einen Afghanen verliebt hat. Ihre Mutter erzählt: von Überforderung, Entfremdung und ihrer Angst, die Tochter zu verlieren.

Illustration: Anna auf dem Boden sitzend in einer Moschee mit Koran in der Hand
Bild: DW/Gesa Kuis

Immer näher kommt der Tag im Juli, vor dem Elke Müller* sich so sehr fürchtet. Der Tag, an dem Anna 18 Jahre alt wird. "Wenn sie volljährig ist, kann ich sie rechtlich gesehen nicht mehr zurückhalten." Anna* möchte ihre erste große Liebe heiraten. Abdul*. Wenn das passiert, so glaubt Elke Müller, könnte sie ihre Tochter verlieren.

Anna weiß nicht, dass ihre Mutter mit der DW spricht. Das war Elke Müller wichtig. Sie befürchtet, dass Anna ihr diesen Schritt übelnehmen würde. Trotzdem wollte die Mutter über ihre Ängste sprechen. Und damit andere Eltern in ähnlicher Lage Mut machen, sich Hilfe zu suchen. Frau Müller zeigt Fotos ihrer Tochter: Anna als Kind, mit langen Haaren, lachend. Und Anna heute: mit ernstem Blick auf ihrem Personalausweisfoto, die Haare unter einem Kopftuch verborgen.

Elke Müller lebt allein mit ihren zwei Töchtern in einer Großstadt im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen (NRW). Vom Vater der Mädchen trennte sie sich, als Anna noch in den Kindergarten ging. Anna wächst evangelisch auf, aber regelmäßig in die Kirche geht die Familie nicht.

Die große Liebe

Als Anna 14 Jahre alt war, lernte sie einen afghanischen Jungen kennen. Abdul, ein gut aussehender Teenager mit großen braunen Augen. Er war im Herbst 2015 als unbegleiteter minderjähriger Flüchtling nach Deutschland gekommen. Einer von insgesamt über 22.000 Minderjährigen, die nach Angaben des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge im Jahr 2015 allein nach Deutschland flüchteten.

Neben seiner Muttersprache Paschtu beherrschte Abdul damals nur ein paar Brocken deutsch. Einen Schulabschluss hat er nicht. Sein Asylantrag wurde abgelehnt, er ist nur geduldet in Deutschland. Mit mittlerweile 19 Jahren ist er nicht mehr minderjährig und kann jederzeit abgeschoben werden.

Bild: DW/Gesa Kuis

Der Junge habe ihr Leid getan, sagt Elke Müller. "Ich habe für ihn fast so etwas wie Mutterinstinkt gefühlt." Sie zeigte sich dem neuen Freund ihrer Tochter gegenüber aufgeschlossen, lud ihn zu sich nach Hause ein. Anna sei von Abdul regelrecht verzaubert gewesen. "In ihren Augen waren nur noch Herzchen", erinnert sich Elke Müller.

Bei ihr dagegen kam schon bald ein mulmiges Gefühl auf. Denn Anna veränderte sich. Sie fing plötzlich an, ein Kopftuch zu tragen und zu Allah zu beten. "Ich habe Abdul darauf angesprochen. Er meinte, sie täte es freiwillig, er hätte das nie von ihr verlangt." Mit 15 Jahren teilte Anna ihrer Mutter mit, dass sie zum Islam konvertiert sei. Zu diesem Zeitpunkt war sie seit gut neun Monaten mit Abdul zusammen. Für Elke Müller war der Islam eine fremde Religion, mit der sie bisher keine Berührungspunkte hatte. Das Fremde machte ihr Angst. Ihr eigenes Kind wurde ihr fremd.

Anna habe das Bedürfnis gehabt, schnell so viel wie möglich über ihre neue Religion zu erfahren und habe begonnen, im Internet darüber zu recherchieren. Auch auf "irgendwelchen komischen Seiten", erinnert sich ihre Mutter - wie beispielsweise der des bekannten Konvertiten Pierre Vogel. Der evangelisch getaufte Vogel ist mittlerweile 40 Jahre alt. Er galt über Jahre als Führungsfigur in der radikalen Islamisten-Szene in Deutschland und wird überwacht.

Früher trat Vogel in Fußgängerzonen vor hunderten Anhängern als Prediger auf, heute ist er vor allem im Internet aktiv. Sein Youtube-Kanal hat rund 30.000 Follower. Auch Anna landete irgendwann bei ihm. Und Elke Müller ebenfalls, als sie sich die Seiten anschaute, auf denen ihre Tochter im Internet unterwegs war. Müller kannte den Namen Pierre Vogel aus den Medien, die ihn oft als Hassprediger bezeichneten. Deshalb schrillten bei ihr alle Alarmglocken. "Ich habe mich gefragt, wie ich mich verhalten soll. Ob ich etwas verbieten kann oder soll. Das war einfach alles zu viel für mich."

Bild: DW/Gesa Kuis

Das fremde, eigene Kind

Die überforderte Mutter suchte sich Hilfe. Bei einer evangelischen Erziehungsberatungsstelle. Bei der "Beratungsstelle Radikalisierung" beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Und schließlich bei "Grenzgänger" in der Stadt Bochum im Ruhrgebiet. Dorthin können sich Angehörige oder Lehrer wenden, die mit Jugendlichen zu tun haben, bei denen sich Anzeichen für religiösen Extremismus zeigen. Das Projekt wird aus Bundesmitteln finanziert.

Das "Grenzgänger"-Team besteht aus Sozialarbeitern, Psychologen und Islamwissenschaftlern. Seit 2012 haben sie mehrere hundert Fälle betreut, schätzt Pädagogin Susanne Wittmann im Gespräch mit der DW. "Frau Müller hat sich sehr früh an uns gewandt". Es sei schnell klar gewesen, dass auch bei Anna eine reale Gefahr bestand, abzugleiten. Wenn Jugendliche sich im Internet "auf eigene Faust über den Islam informieren wollen, landen sie immer bei den Falschen", glaubt Wittmann.

Die Falschen - damit sind vor allem Salafisten wie Pierre Vogel gemeint, die eine besonders konservative Strömung des Islam vertreten. Sie werben im Netz gezielt neue Anhänger für ihre harsche Interpretation des Koran an. Einige suchen auch nach Rekruten für den bewaffneten Kampf. In Nordrhein-Westfalen hat die salafistische Szene etwa 3000 Anhänger. Nach Angaben des Landesverfassungsschutzes waren unter den 255 Personen, die aus NRW in die IS-Gebiete nach Syrien und in den Irak ausreisten, rund 70 Frauen.

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Islamkunde im geschützten Raum

Nachdem Elke Müller sich bei "Grenzgänger" gemeldet hatte, besuchte Sozialpädagogin Susanne Wittmann die Familie in ihrem Zuhause. Dort lernte sie auch Anna kennen. Und erlebte sie als eine Suchende. "Sie war nicht gefestigt, sondern noch offen - für die Szene, aber eben auch für uns." Das Beratungsziel war, Anna davon abzuhalten, mit radikal-salafistischem Gedankengut in Berührung zu kommen. Gleichzeitig sollte das Mädchen die Möglichkeit haben, ihren neuen Glauben auszuleben.

Auf der Suche nach einem geeigneten Anlaufpunkt für Anna holte sich das "Grenzgänger"-Team auch Rat bei der Polizei. Dort empfahl ein Beamter, der engen Kontakt zu muslimischen Institutionen hält, eine Moschee in Annas Heimatstadt, in der es eine eigene Frauen- und Mädchengruppe gibt. Diese Gruppe wurde für Anna zunächst zu einem festen Anlaufpunkt. Und die Leiterin zu einer Art persönlicher Mentorin. Teilweise habe sie fast täglich mit Anna Kontakt gehabt, schildert sie gegenüber der DW.

An das erste Treffen erinnert sich die Leiterin noch genau. "Ich habe bei Anna von Anfang an bewundert, wie zielstrebig sie in ihrem Alter schon war. Sie wollte sich wirklich sehr intensiv mit dem Islam auseinandersetzen." Anna habe viele Fragen gestellt: zum richtigen Gebet, zum Fasten, zum Verhalten auf Klassenfahrten. Und einmal habe sie wissen wollen, ob der Islam ein Nasenpiercing erlaube.

Ungefähr ein Jahr lang sei Anna regelmäßig einmal pro Woche in die Mädchengruppe gekommen, berichtet die Leiterin. In der Moschee hätte es auch eine Jungengruppe für Abdul gegeben, doch Annas Freund habe kein Interesse gezeigt. "Er kam einmal zu einem Treffen. Aber das schien ihm eher unangenehm zu sein."

Als radikal würde sie Abdul nicht einstufen, sagt die Leiterin der Mädchengruppe. "Mir schien er eher naiv zu sein und selbst Unterstützung zu brauchen. Er ist sehr traditionell geprägt. Aber viel Wissen über den Islam hat er nicht."

Alptraumvorstellung Afghanistan

Seit ein paar Monaten kommt auch Anna nicht mehr in die Moschee. "Sie meinte, sie wolle ihren Schwerpunkt woanders legen." Gründe habe Anna nicht genannt. Nach wie vor würde sie sich aber per Whatsapp melden, wenn sie Fragen habe. Ob Anna heute eine andere Moschee besucht, weiß sie nicht. 

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Annas Mutter weiß es auch nicht. Elke Müller lebt weiter in Angst. Auch sie hält Abdul nicht für einen religiösen Fanatiker. Dennoch ist da etwas, was ihr keine Ruhe lässt. Wiederholt habe er davon gesprochen, nach Afghanistan zurückzugehen, zu seiner kranken Mutter. "Er saß hier bei uns und sagte: Wenn Anna volljährig ist, dann heiraten wir. Ich dachte nur: Oh Gott! Wenn sie mit ihm nach Afghanistan geht, dann sehe ich sie nicht lebend wieder." Elke Müller weiß nicht einmal, wo im Land das Heimatdorf des jungen Mannes liegt. Afghanistan – das bedeutet für sie vor allem Krieg, Terror und Taliban.

Anna selbst hat ihrer Mutter versichert, dass sie mit Abdul in Deutschland zusammenleben will. An diese Aussage klammert sich Elke Müller. Und daran, dass ihre Tochter berufliche Pläne hat. Dennoch fürchtet sie, dass Anna nach ihrer Hochzeit aus Liebe alle Pläne über Bord werfen könnte.

"Dass ein Mädchen seiner großen Liebe ins Ausland folgt, ist nicht so ungewöhnlich", sagt Sozialpädagogin Susanne Wittmann von "Grenzgänger". Auch eine spätere Radikalisierung schließt die Pädagogin bei Anna noch nicht aus. "In diesem Alter kann es immer sein, dass sie durch eine Krise den Halt verliert." Wie würde Anna zum Beispiel reagieren, wenn Abdul tatsächlich von einer Abschiebung bedroht wäre?

Immer näher kommt der Tag, vor dem Elke Müller sich so fürchtet. Ihr Tag X, an dem Anna volljährig wird. Danach, so sagt sie, "werde ich wissen, ob ich verloren habe".

* Hinweis: Die Redaktion hat die Namen der Beteiligten geändert.

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