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Druck von Anne-Frank-Buch ausgesetzt

Christine Lehnen
31. Januar 2022

Ein jüdischer Notar soll Anne Frank verraten haben, verkündete kürzlich ein Historikerteam. Nach heftiger Kritik an einem Buch dazu setzt ein niederländischer Verlag den Druck aus.

Foto von Anne Frank
Anne Frank wurde durch ihre Tagebuchaufzeichnungen weltberühmtBild: IFTN/United Archives/picture alliance

Fünf Jahre lang hatte das 20-köpfige Expertenteam recherchiert. Dann glaubte es herausgefunden zu haben, wer Anne Frank und ihre Familie im August 1944 an die Gestapo auslieferte: Der jüdisch-niederländische Notar Arnold van den Bergh soll den deutschen Besatzern eine Liste mit Verstecken von Juden in Amsterdam übergeben haben, um das Leben seiner eigenen Familie zu retten.

Die Ergebnisse des Untersuchungsteams fasste die Autorin Rosemary Sullivan im Sachbuch "Het verraad van Anne Frank" ("Der Verrat von Anne Frank") zusammen. Es erschien am 18. Januar zeitgleich auf Englisch, Niederländisch, Französisch und Spanisch und nahm die These des Rechercheteams als gegeben an. 

Daraufhin gab es massive Kritik. Jetzt hat der niederländische Verlag ambo anthos angekündigt, den Druck des umstrittenen Buchs vorerst auszusetzen. 

"Wir sind uns bewusst, dass wir durch die internationale Veröffentlichung ins Schleudern geraten sind und dass hier eine kritischere Haltung möglich gewesen wäre. Wir warten auf die Antworten des Forschungsteams auf die aufgeworfenen Fragen und verschieben die Entscheidung über einen Nachdruck vorerst", hieß es am Montag (31.1.2022) seitens des Verlags. Zudem entschuldige man sich "aufrichtig bei allen, die sich durch das Buch angegriffen fühlen." 

Historiker äußern deutliche Kritik 

Schon zuvor hatten sich sich Historiker kritisch zu den Ergebnissen geäußert. Die Beweislage sei sehr dünn, sagte der Amsterdamer Professor für Holocaust- und Genozidstudien, Johannes Houwink ten Cate, der Tageszeitung "NRC Handelsblad".

Als Hauptbeweis für den Verrat durch den Notar galt dem Rechercheteam die Kopie eines anonymen Briefes, den Annes Vater Otto Frank 1946 erhielt. Darin wurde der Name des Notars Arnold van den Bergh bereits genannt. Diese Spur sei zwar bekannt gewesen, so das Ermittlerteam, man sei ihr aber bisher noch nicht konsequent nachgegangen.

Der Notar hatte als Mitglied des Jüdischen Rates viele Kontakte und war zunächst vor einer Deportation geschützt. Doch 1944 fiel dieser Schutz weg. Deshalb soll er in seiner Verzweiflung die Verstecke mehrerer jüdischer Familien verraten haben - in der Hoffnung, seine Frau, seine drei Töchter und sich selbst retten zu können. Darunter war auch die Adresse des Hinterhauses in der Prinsengracht in Amsterdam, in dem sich Anne Frank aufhielt. 

Es gebe jedoch keinerlei Beweise, dass der Jüdische Rat im Zweiten Weltkrieg Listen mit Adressen von Verstecken von Juden aufgestellt habe, so Houwink ten Cate: "Davon habe ich in 35 Jahren Forschung noch nie etwas gesehen". Zu großen Anschuldigungen gehörten große Beweise, "und die gibt es nicht."

Auch der Amsterdamer Historiker Ben Wallet sagte dem Nachrichtenmagazin "Der Spiegel", es sei "mehr als fragwürdig", eine Person "auf der Basis eines anonymen Schreibens des Verrats an Anne Frank und ihrer Familie anzuschuldigen". Die Beweisführung der Rechercheure sei "wacklig wie ein Kartenhaus". Sein Kollege Bart van der Boom von der Universität Leiden bezeichnete die Ergebnisse im Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" als "verleumderischen Unsinn".

Die Lösung eines historischen Rätsels?

Der ehemalige FBI-Ermittler Vince Pankoke, der maßgeblich an der Untersuchung beteiligt war, hatte zuvor bereits eingeräumt, dass es 77 Jahre nach Kriegsende keine absolute Gewissheit gebe. "Unsere Theorie hat aber eine Wahrscheinlichkeit von mehr als 85 Prozent", sagte er dem Deutschlandfunk in einem Interview.

Im Versteck der Familie Frank befindet sich heute das Anne-Frank-Haus, ein Museum, das an die Judenverfolgung durch die Nazis erinnertBild: Daniel Kalker/picture alliance

Der forensische Analytiker Frans Alkemade, auf dessen Bericht sich das Team bei dieser Prozentzahl berufen hatte, relativierte diese Deutung mittlerweile gegenüber dem niederländischen Nachrichtenportal "NRC".

Ziel der Ermittlungen sei es laut Pankoke nicht gewesen, Anklage gegen jemanden zu erheben, sondern das historische Rätsel zu lösen, wer die Familie Frank an die Gestapo ausgeliefert habe. Nach dem Verrat im August 1944 deportierten die Nazis die Familie ins Konzentrationslager Auschwitz, am 30. Oktober 1944 wurde Anne gemeinsam mit ihrer Schwester Margot von Auschwitz nach Bergen-Belsen gebracht. Dort wurde Anne Frank noch im selben Jahr ermordet. Einzig ihr Vater, Otto Frank, überlebte.

Versteck in den Niederlanden

Es war seine Sekretärin Miep Gies, die das Tagebuch von Anne Frank aufbewahrte und es Otto Frank nach Kriegsende übergab. Er widmete sich bis zu seinem Tod dem Vermächtnis seiner Tochter Anne und veröffentlichte 1946 die erste Ausgabe des Tagebuchs in Holländisch unter dem Titel "Het Achterhuis". Eine erste deutsche Übersetzung folgte 1950. Schon 1960 hatte das Buch eine Weltauflage von mehr als 3,5 Millionen Exemplaren erreicht. Es ist noch heute eines der meistgelesenen Bücher der Welt.

Anmerkung der Redaktion: Der Text wurde am 31.01.2022 aktualisiert.

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