1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Gesellschaft

Anrufen gegen die Angst

24. März 2020

Allein zu Haus? Die Gedanken kreisen endlos um Corona? In dieser Situation kann der Griff zum Telefon helfen. Die Telefonseelsorge ist deshalb gerade gefragt wie selten zuvor.

Symbolbild Telefonseelsorge
Bild: picture-alliance/dpa/A. Warmuth

Millionen Menschen sollen zuhause bleiben, um die Ausbreitung des Coronavirus zu verlangsamen. Direkter Kontakt? Nur noch zu den engsten Angehörigen, wenn überhaupt. Für viele bedeutet das Stress. Manche Menschen kann es sogar in eine existentielle Krise stürzen, sagt Ruth Belzner. Sie leitet die Telefonseelsorge im bayerischen Würzburg im Süden Deutschlands. Vier von fünf Anrufern wollten mittlerweile über Corona reden, sagt Belzner.

"Wenn es so weitergeht, werden wir bald kein Gespräch mehr ohne das Thema Corona führen. Es beschäftigt mich ja auch ständig, es beschäftigt uns alle, jeder ist betroffen." Seit in Bayern Ausgangssperren verhängt wurden, arbeiten Belzner und ihre 90 ehrenamtlichen Mitarbeiter "wirklich am Anschlag". Die Zahl der Anrufe sei seither um fast 50 Prozent gegenüber normalen Zeiten in die Höhe geschnellt, erklärt die Diplompsychologin.

Suizidgefahr steigt

Ist es die Angst vor dem Tod, die Menschen jetzt zum Hörer greifen lässt? Schließlich häufen sich die Meldungen über Todesfälle nun auch in Deutschland. In Würzburg starben innerhalb einer Woche neun Bewohner eines Pflegeheims an den Folgen einer Corona-Ansteckung. "Nein", widerspricht Belzner. "Die meisten Anrufer fürchten die Einsamkeit mehr als die Ansteckung."
Besonders hart treffe die nun deutschlandweit geltende Kontaktsperre Menschen mit psychischen Problemen. Denn deren gewohntes Unterstützernetz sei weggebrochen. "Wenn man sowieso zum Grübeln, zu Ängsten neigt und jetzt komplett allein gelassen wird, dann ist das eine bedrohliche Perspektive. Selbst wir als weniger stark belastete Menschen erleben ja schon, was das mit uns macht." Für einige Menschen steige deshalb momentan die Suizidgefahr. "Sie sind mit ihren Ängsten allein gelassen. Da ist die Telefonseelsorge im Moment das letzte, was es gibt.”

Angebote in zahlreichen Ländern

105 Telefonseelsorge-Stellen gibt es in Deutschland. Getragen werden sie von der evangelischen und katholischen Kirche. Die Anrufe unter 0800/111 0 111 oder 0800/111 0 222 sind kostenfrei. In vielen anderen Ländern gibt es ähnliche Angebote, die etwa unter https://www.ifotes.org/ oder https://www.befrienders.org aufgelistet sind.

Aber was können Ruth Belzner und ihre Kollegen am Telefon sagen, um Angst und Einsamkeit in Zeiten der Isolation zu vertreiben? "Man kann erstmal einfach Ablenkung und Entlastung bieten", sagt Belzner. "Es ist für viele Menschen schon gut, wenn sie ihre Gedanken einmal aussprechen können und wissen, es hört mir jemand zu, es fühlt jemand mit." Manchmal schaffe man dann auch den Sprung zu Alltagsthemen. "Etwa der Frage: was werden sie denn heute noch tun, was wollen Sie sich kochen?"

"Zuversicht ins Leben"

Belzner ist froh, dass die Telefonseelsorge als "systemrelevant" eingestuft wird und ihre Mitarbeiter weiter zur Arbeit gehen dürfen. "Zur Zeit wird Telefonseelsorge dringender gebraucht denn je", sagt sie. Aber könnten die ehrenamtlichen Seelsorger nicht einfach zuhause das Telefon beantworten? Nein, sagt Belzner. "Unsere Plattform unterliegt sehr umfangreichen Datenschutz-Bestimmungen. Anrufe können nur an dafür zugelassenen, registrierten Apparaten angenommen werden." Zudem sei eine Trennung zwischen Seelsorge-Dienst und Privatleben für die psychische Gesundheit ihrer Mitarbeiter wichtig.
Belzner selbst erinnert die jetzige Situation an den Mai 1986. Damals erfuhr die Welt nach und nach, welche Katastrophe sich im Atomkraftwerk von Tschernobyl ereignet hatte. "Das waren wunderschöne Frühsommertage", erinnert sich Belzner, "aber gleichzeitig war da eine nicht sichtbare, nicht greifbare Bedrohung. So ähnlich erlebe ich das jetzt auch."

Belzner und die anderen Telefonseelsorger sprechen von sich aus keine religiösen Themen an. "Manche Anrufer kommen aber von sich aus auf das Thema Glauben zu sprechen, wenn man fragt, was ihnen Hoffnung macht, was ihnen Halt gibt", so Belzner. Und was gibt Belzner Halt? "Eine grundsätzliche Zuversicht ins Leben. Es wird weitergehen. Ich habe das Grundgefühl: irgendwie begleitet mich Gott schon, egal, was kommt." Diese Zuversicht allerdings könne man auch im intensivsten Telefongespräch nicht einfach so weitergeben.

Die Deutsche Welle berichtet zurückhaltend über das Thema Suizid, da es Hinweise darauf gibt, dass manche Formen der Berichterstattung zu Nachahmungsreaktionen führen können. Sollten Sie selbst Selbstmordgedanken hegen oder in einer emotionalen Notlage stecken, zögern Sie nicht, Hilfe zu suchen. Wo es Hilfe in Ihrem Land gibt, finden Sie unter der Website https://www.befrienders.org.

Bei der Telefonseelsorge brennt immer Licht - wie hier in BerlinBild: DW/V.Esipov
Vier von fünf Anrufen drehen sich um die Corona-Pandemie, sagt Ruth BelznerBild: privat