Anschlag vom 7. Oktober: Der letzte DJ des Nova-Festivals
6. Oktober 2024In den vergangenen Monaten ist Yarin Ilovich viel um die Welt geflogen. Im September war er in den USA, im August legte er in Brasilien auf, kurz darauf flog er nach Berlin. Einen neuen Track hat er auch gerade veröffentlicht: "Cyber Fever" feiert eine "magische Welt", wie eine Computerstimme verkündet. Bunter, schöner, fröhlicher als die Wirklichkeit.
Wenn Artifex - so sein Künstlername - auflegt, dann tanzt er auf der Bühne, heizt die Menge an, springt zu seinen Beats in die Höhe. Wüsste man nicht, was er vor einem Jahr erlebt hat, man würde es bei diesen Partyszenen nicht ahnen.
Doch seine Augen haben Dinge gesehen, die ein Mensch kaum verarbeiten kann. Yarin Ilovich ist ein Überlebender des Terroranschlags auf das Supernova-Musikfestival in Israel am 7. Oktober. Er ist der letzte Discjockey, der auf dem Festival auflegte. Jener DJ, der am Morgen des Überfalls der Hamas zuerst die Menge zum Tanzen brachte - und dann die Musik abrupt stoppte.
Als wir Ilovich in Berlin treffen, wirkt er nervös. Wenige Interviews habe er bislang gegeben, erzählt er, und nur in Israel. Aber Englisch zu sprechen werde ihm hoffentlich helfen, eine Distanz aufzubauen. Um zu erzählen, was am 7. Oktober geschah, ohne den Tag in all seinen grausamen Details noch einmal durchleben zu müssen.
Eine magische Welt - fünf Kilometer von Gaza entfernt
"Es war noch dunkel", erinnert er sich an den Moment, als er begann aufzulegen. 5.35 Uhr. Für Ilovich die perfekte Uhrzeit. Denn kurz darauf begann langsam die Dämmerung, Minute für Minute hellte sich der Himmel ein Stück weit auf. "Das ist ein besonderer Moment einer Psytrance-Party", sagt Ilovich.
Psytrance steht für Psychedelic Trance, eine temporeiche Tanzmusik mit sphärischen Klängen. "Dieser Wechsel vom Dunklen zum Hellen. Es hat etwas Geheimnisvolles. Man sieht einander zum ersten Mal wirklich an. Man erkennt das Lächeln auf den Gesichtern der Menschen auf der Tanzfläche. Es entsteht eine besondere Energie, es ist ein erfüllender Moment."
Mehr als 3000 Besucher feierten an diesem Morgen des 7. Oktober inmitten einer Wüstenlandschaft zu psychedelischen Beats. Ein buntes Zeltdach war über die Tanzfläche gespannt, das Gelände kunstvoll dekoriert, viele Besucher waren fantasievoll geschminkt, trugen auffälligen Schmuck zu ihren Tattoos, nicht wenige nahmen bewusstseinserweiternde Drogen.
Wie eine magische Welt sollte das Festivalgelände wirken. Eine alternative Realität, schon damals. Der Ort ist nur fünf Kilometer vom Grenzzaun zum Gazastreifen entfernt.
Yarin Ilovich merkte nichts von den ersten Raketen, die wenige Minuten vor halb sieben aus Gaza auf Israel abgeschossen wurden. Er reagierte auch nicht, als ein paar Partybesucher Fallschirmflieger entdecken, die aus Richtung Gaza auf sie zusteuerten. Er konzentrierte sich allein auf die Musik, auf den richtigen Beat. "Als DJ bist du voller Adrenalin, alles was du spürst, ist, wie die Menge zu deiner Musik tanzt."
6.29 Uhr: "Alarmstufe Rot"
Doch dann trat einer der Producer des Festivals von hinten an ihn heran und sagte ihm ins Ohr: "Mach die Musik aus!"
"Ich fragte nach: Die Musik ausmachen? Und er sagte: 'Ja, mach die Musik aus. Wir haben Alarmstufe Rot'."
6.29 Uhr: Artifex drehte die Musik ab. Stille. Und die Menge buhte. "Alarmstufe Rot, Alarmstufe Rot!", rief der Producer auf die Tanzfläche. Die Szene ist auf Videos festgehalten.
Ilovich erinnert sich: Auch wenn es in der Wüste kaum Schutz gab, brach zunächst einmal keine Panik aus. In Israel hat jeder schon mal Raketenalarm erlebt. Doch dann flogen hunderte Raketen.
Backstage kümmerte er sich um eine deutsche Freundin, die im Gegensatz zu den meisten Israelis schon zu diesem Zeitpunkt eine Panikattacke bekam. Er half ihr und weiteren, die mit dem Auto wegwollten - und blieb selbst auf dem Festivalgelände, sogar als die Freunde anriefen und ihm mitteilten, sie würden auf dem Weg beschossen. "Ich dachte: 'Hier sind doch Security-Leute.' Ich fühlte mich sicher."
Gegen sieben Uhr morgens erreichten Terroristen der Hamas und anderer militant-islamistischer Gruppen das Gelände des Nova-Festivals. Ilovich versuchte wie viele andere Schutz bei den Autos zu finden, doch auf dem Parkplatz herrschte zu diesem Zeitpunkt bereits Chaos: Autos stauten sich auf dem Weg nach draußen, die Zuwege waren versperrt. Schüsse fielen aus nächster Nähe.
Hunderte rannten aufs angrenzende Feld, auch Ilovich und einige Freunde. "Sie schießen auf uns, Menschen werden getroffen und bleiben liegen, einige fallen, weil sie Angst haben, andere, weil sie betrunken sind", erinnert er sich. Eine Freundin, die mit ihm um ihr Leben rannte, begann, sich zu übergeben. Er schleifte sie weiter und schärfte ihr ein, nicht nach hinten zu schauen.
An diesem 7. Oktober töteten militant-islamistische Kämpfer aus dem Gazastreifen mehr als 360 Besucher des Nova-Festivals, 44 wurden als Geiseln in den Gazastreifen verschleppt, etliche verletzt. Insgesamt wurden beim Überfall der Hamas auf Israel rund 1200 Menschen getötet und 251 als Geiseln nach Gaza entführt.
Yarin Ilovich schaffte es mit einigen Freunden in den nahe gelegenen Kibbutz Re'im, wo einige wenige Polizisten versuchten, die Angreifer abzuwehren. Stundenlang harrte er versteckt unter einem Streifenwagen aus, hörte über Polizeifunk, wie überall Menschen getötet wurden, wie Polizisten um ihr Leben bettelten und immer wieder den verzweifelten Ruf: "Wo bleibt die Armee?"
"Das war das Schlimmste", sagt er über den Walkie-Talkie-Sound. "Du hörst: 'Sie töten uns'." Doch den Polizisten gelang es, Ilovich und einige andere nach Ofakim zu bringen, eine 15-Minuten-Fahrt.
"Es war apokalyptisch", erinnert er sich an den Weg, "überall verbrannte Autos und Leichen auf der Straße, rundum nichts als Wüste und tote Körper." Doch auch in Ofakim herrschte Kriegszustand. Erst am Morgen des 8. Oktober waren er und drei seiner Freunde in Sicherheit.
"We will dance again" – "Wir werden wieder tanzen"
In den ersten Monaten nach dem Angriff, erzählt Ilovich, sei er wöchentlich zur Psychotherapie gegangen. Die beste Therapie aber sei für ihn die Musik. Musik sei sein "Safe Space". Der Ort, an dem er sich sicher und glücklich fühle. Noch immer.
"We will dance again" (Deutsch: "Wir werden wieder tanzen") - diesen Slogan haben die Überlebenden des Massakers formuliert. Es ist ein Akt des Trotzes, des Widerstands, der wohl meinen soll: Wir lassen uns nicht unterkriegen. Wir lassen uns unseren Glauben an eine magische, eine andere Welt nicht nehmen. Doch natürlich gelingt das nicht allen.
In den Wochen und Monaten nach dem 7. Oktober wurden zahlreiche Berichte von sexueller Gewalt, Vergewaltigungen und anderer Gräueltaten beim Terrorangriff auf das Nova-Festival dokumentiert. Überlebende berichten von schweren Depressionen, davon, dass sie mit ihrem Leben nicht mehr klarkommen. Israelische Therapeuten sprechen von etlichen Suiziden.
Immer wieder hat DJ Artifex in den vergangenen Wochen für den "Tribe of Nova" aufgelegt. So nennt sich die Gemeinschaft der Supernova-Party-Fans schon seit Jahren. Sie sind nun zu einer Gemeinschaft von Überlebenden geworden, die sich seit dem 7. Oktober regelmäßig treffen, um zu trauern, zu sprechen, gemeinsam Körper und Geist durch Yoga, Meditation und Musik zu heilen.
Ganz im Sinne des Psytrance-Gedankens, der mit geprägt wurde von Hippie-Trail-Reisenden in Goa. Eine liebende Gemeinschaft, so beschreiben viele Fans den Nova-Gedanken.
Er spielt die Musik zu Ende
Hierhin zieht es Ilovich, der sich bewusst von den meisten Demonstrationen gegen die israelische Regierung fernhält, auch wenn er deutlich macht, wie wenig er von der aktuellen Regierung hält. Der bewusst kaum Nachrichten schaut - weder über den Krieg in Gaza noch über die Geiseln, die noch immer in Gaza festgehalten werden.
Er sei ein positiver Mensch, sagt Yarin Ilovich. Er glaube an bessere Zeiten. Er will nicht als traumatisiertes Opfer dastehen, als jemand, der gebrochen ist. Er will jemand sein, der anderen hilft. Der den Überlebenden des Festivals die Möglichkeit gibt, das Erlebte zu verarbeiten.
Für die Nova-Gemeinschaft legt DJ Artifex nicht einfach Psytrance Musik auf. Immer wieder spielt er auch exakt das Set, das er um 6.29 Uhr des 7. Oktober unterbrochen hat. "Für viele ist das wichtig, dass sie hören, wie ich das Set zu Ende spiele und nicht mittendrin abbreche. Sie sagen mir, wenn sie mich ohne Raketenlärm hören, können sie das Erlebte zu einem Abschluss bringen." Er spielt die Musik so zu Ende, so wie sie eigentlich hätte enden sollen, in einer anderen Wirklichkeit.
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Nach dem Terrorangriff vom 7. Oktober wurde er bekannt als die "deutsche Stimme aus Gaza". Per Videoblog berichtete er über israelische Bombardements. Ein Jahr später fragt er sich, ob der Krieg jemals enden wird.