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Anschlags-Gedenken in Hanau

21. August 2020

Der rassistische Terroranschlag von Hanau erschütterte Deutschland. Ein halbes Jahr danach rufen Angehörige der Opfer zur Demonstration auf: gegen Rassismus und für eine bessere Aufklärung der Tat.

Frankfurt Gemälde erinnert an Opfer von Hanau
Bild: picture-alliance/dpa/A. Arnold

Seit sechs Monaten hat Çetin Gültekin keine Nacht mehr durchgeschlafen. "Nach zwei Stunden wache ich schweißgebadet auf", sagt er im Gespräch mit der DW. "Es ist wie Folter. Der Täter hat mir den Bruder geraubt, er hat mir den Schlaf geraubt, er hat unserer gesamten Familie die Existenz geraubt." Der Attentäter erschoss Çetin Gültekins Bruder Gökhan am 19. Februar in Hanau. "Alles, was Gökhan ausgemacht hat, fehlt", sagt sein älterer Bruder. "Sein Mut, seine Kraft, seine Späße. Sein Gesichtsausdruck, wenn er lacht. Wie er dabei den Kopf bewegt. Das alles sehe ich vor meinen Augen, wenn ich an meinen Bruder denke."

Vom Hanauer Zentrum bis in den Stadtteil Kesselstadt führte der Weg des Täters. Innerhalb von nur zwölf Minuten tötete er Gökhan Gültekin und acht weitere Menschen, aus Hass auf vermeintlich Fremde. Anschließend fuhr er nach Hause, erschoss seine Mutter und dann sich selbst. Sechs Monate nach dem rassistischen Terroranschlag vom 19. Februar werden Angehörige der Opfer gemeinsam mit Demonstranten aus ganz Deutschland die drei Kilometer von einem Tatort zum anderen gehen. Zu der Demonstration am Samstag, 22. August, aufgerufen hat die Initiative "19. Februar Hanau".

"Es braucht Antworten"

"Sinn dieser Demo ist es natürlich, an die Opfer zu erinnern", so Çetin Gültekin. "Aber hauptsächlich geht es darum, den Behörden Druck zu machen, damit sie nach einem halben Jahr endlich anfangen, uns Antworten zu geben." Sein Bruder Gökhan war 37 Jahre alt, stand kurz vor einer Verlobung, als ihn eine Kugel ins Herz traf. Warum wurde der Waffenschein des Täters verlängert? Und das, obwohl der Rechtsterrorist seine Gesinnung öffentlich machte und erkennbar psychisch krank war? "Hätten die Behörden ihre Arbeit richtig gemacht, dann wäre mein Bruder auf jeden Fall noch am Leben", sagt Çetin Gültekin. "Mit einem Messer hätte er es nicht geschafft, neun Menschen umzubringen."

Der Gedanke an seinen getöteten Bruder Gökhan raubt Çetin Gültekin den SchlafBild: picture-alliance/dpa/Andreas Arnold

Die Frage nach der Aufklärung treibe die Angehörigen der Opfer von Hanau am stärksten um, sagt der Mediator und Kommunikationstrainer Robert Erkan. Er leitete bis vergangene Woche die städtische Opferberatungsstelle in Hanau, hat die Angehörigen der Opfer von Anfang an betreut. "Da braucht es Antworten und das Eingeständnis, wo man vielleicht nicht richtig hingeschaut hat", so Erkan im Gespräch mit der DW. "Gut ist, wenn auch Institutionen ihre Fehlerhaftigkeit und die Grenzen des Möglichen mit allen Konsequenzen eingestehen. Wenn alles als toll verkauft wird, erzeugt das am Ende nur mehr Wut und Widerstand."

Streit um das Gedenken

Das Gedenken ein halbes Jahr nach dem Anschlag wird zudem überschattet vom Streit darüber, wie die Erinnerung an die Verstorbenen wach gehalten werden soll. Der Magistrat der Stadt hatte einstimmig beschlossen, die Opfer des Anschlags posthum mit der Goldenen Ehrenplakette der Stadt Hanau zu würdigen. Der CDU-Landtagsabgeordnete Heiko Kasseckert spricht sich allerdings dagegen aus, den Opfern die Ehrenplakette zu verleihen. Sie sei eine Auszeichnung für Menschen, die sich im besonderen Maße um Hanau verdient gemacht hätten, was, bei aller Tragik, auf die Terroropfer nicht zutreffe, so Kasseckert.

Robert Erkan leitete die Opferberatungsstelle der Stadt HanauBild: Achim Katzberg

"Der Streit ist unsäglich", sagt Erkan. "Der Beschluss dazu war parteiübergreifend. Jetzt kann man sich darüber streiten, für wen eine Ehrenplakette in Frage kommt." Es gehe schlicht um die Ehre der Verstorbenen. "Und darüber eine Debatte zu führen, vernebelt den Blick auf die eigentlichen Probleme. Denn jetzt ist es wichtig, dass wir wieder Vertrauen zueinander schaffen." Das könne nur durch eine vollständige Aufklärung des Verbrechens erreicht werden.

Zurück zur Normalität?

Nach dem Anschlag half Erkan, Familienzusammenkünfte, Totengebete und Trauerfeiern zu organisieren, unterstützte bei Behördengängen und Versicherungsfragen, vermittelte den Angehörigen der Opfer psychotherapeutische Beratung. Eine Arbeit, die der Corona-Lockdown erschwert hat. "Denn in dieser Zeit, von Mitte März bis Ende Mai, ist ganz wertvolle Zeit verloren gegangen", so Erkan. "Ganze Institutionen waren in dieser Ausnahmezeit, salopp gesprochen, mit sich selbst beschäftigt. Einerseits nachvollziehbar, aber für die Angehörigen der Opfer nicht hilfreich."

Am Denkmal der Gebrüder Grimm im Zentrum Hanaus stehen Kerzen und Blumen in Erinnerung an den 19. Februar 2020Bild: Reuters/K. Pfaffenbach

Für die Mütter, Väter, Geschwister, Kinder und Freunde der Opfer von Hanau wird das Leben wahrscheinlich nie wieder so sein wie vor der Tat. Und für die Stadt Hanau? Sie müsse nun zur Normalität zurückkehren können, fordern Heiko Kasseckert und einige Lokalpolitiker in Hanau. Dauerhaft Blumen, Kerzen und Bilder in der Stadt zu haben, die an die Opfer erinnerten, sei nicht gut.

Forderung nach Mahnmal auf dem Marktplatz

Doch was könnte an die Stelle der spontan eingerichteten Erinnerungsorte treten? In den vergangenen Wochen habe er sehr viel mit den Angehörigen über die Erinnerungskultur in Hanau gesprochen, sagt Ferdi Ilkhan. Er ist Mitglied im Ausländerbeirat der Stadt und hat als Pate die Familie Gültekin seit der Tat betreut. "Der wichtigste Wunsch wäre, ein Denkmal, ein Mahnmal, möglichst zentral, möglichst direkt auf dem Marktplatz zu platzieren. Als Zeichen, das die Erinnerung wachhält." Zudem wünscht er sich einen Raum in der Stadt, in dem mit Videos, Dokumenten und Gegenständen an die Tatnacht und die Terroropfer erinnert wird.

Ferdi Ilkhan ist Vorsitzender des Vereins "19. Februar Hanau"Bild: privat

"Die Stimmung in der Stadt ist leider immer noch traurig", sagt Ilkhan der DW. "Wenn man durch die Innenstadt läuft, spürt man immer noch eine Trauerstimmung. Das geht nicht nur mir so." Aber es gebe auch ein Gefühl des Zusammenhalts, das aus dieser Trauer erwächst. "Mittelfristig ist die Hoffnung da, dass nach dem Schock und der Trauer etwas Positives wächst und eine Atmosphäre entsteht, in der so etwas nicht nochmal passieren kann."

Solingen, Halle, Hanau - Ende?

Zum Gedenken und zur Aufarbeitung des Verbrechens möchte Ilkhan auch mit dem Verein "19. Februar Hanau" beitragen, dem er vorsitzt. Momentan sei die Arbeit noch sehr von der akuten Hilfe für die Angehörigen geprägt. In einem nächsten Schritt solle es aber mehr um Bildungsarbeit gegen Rassismus gehen. Noch in diesem Jahr möchte Ilkhan auf einer Demokratiekonferenz politische Handlungsempfehlungen gegen Rassismus vorstellen, die Bürger in Hanau gemeinsam entwickeln.

Çetin Gültekin hofft, dass am Samstag möglichst viele Menschen nach Hanau kommen, um an seinen Bruder und die anderen Opfer zu erinnern, um ein Zeichen gegen Gewalt und Rassismus zu setzen. "Deutschland muss sich entscheiden", sagt er. "Gehen wir diesen Weg mit 200 Toten rechter Gewalt seit 1990 weiter? Oder wird Hanau zu einer Weggabelung?" Er zählt deutsche Städte auf, in denen rechtsextreme Täter in den vergangenen Jahren mordeten, darunter Mölln, Solingen, Kassel, Halle. "Es darf nicht sein, dass nach Hanau noch weitere Städte hinzukommen."

Hanau: Fragen und Forderungen

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