Mit Community-Power zum neuen Auto-Gehirn
25. Mai 2021Die Autoindustrie ist im Umbruch. Alle großen Fahrzeughersteller versuchen, dem US-Emporkömmling Tesla nachzueifern und die Transformation hin zu softwaregetriebenen Unternehmen voranzutreiben. Dafür geben sie Milliardensummen aus und beschäftigen in stetig wachsenden Entwicklungsabteilungen Zehntausende Ingenieure.
So soll beispielsweise die VW-Tochter Cariad laut Konzernchef Herbert Diess schon bald "nach SAP das zweitgrößte Softwareunternehmen in Europa" sein. Denn "die Software spielt künftig die entscheidende Rolle im Auto", sagt auch Audi-CEO Markus Duesmann, der im VW-Konzern auch für Cariad verantwortlich ist. "Software im Auto hat mittlerweile eine ähnliche Bedeutung wie Blut im menschlichen Körper", glaubt Daimlers Technikvorstand Sajjad Khan.
Und alle wollen nur das eine für ihr "Smartphone auf Rädern", wie die zukünftigen softwaregetriebenen Fahrzeuge gerne genannt werden, nämlich ein sicheres Betriebssystem als Grundvoraussetzung für alle elektronischen Anwendungen und Programme.
Startup überholt Autokonzerne
Genau bei diesem Thema ist den Branchenriesen wie BMW, Daimler, VW und Co ein kleines aber feines Startup aus dem Herzen des Silicon Valley vorausgeeilt: Apex AI nennt sich das junge Unternehmen. Erst vor drei Jahren wurde es gegründet vom deutschen Ingenieur Jan Becker.
Wir erreichen ihn morgens um sieben Uhr Ortszeit telefonisch an der San Francisco Bay in Palo Alto. Gut gelaunt erklärt er trotz der frühen Stunde auch knifflige technische Zusammenhänge und natürlich die Besonderheiten seines neuen Mobilitäts-Betriebssystems Apex OS (Operation System).
Das System gewann auf der Elektronikmesse CES den Innovationspreis in der Kategorie Fahrzeugintelligenz und Transport. Vor kurzem wurde es nach einem Jahr Prüfung vom TÜV Nord zertifiziert und entspricht damit der höchsten Sicherheitsstufe.
Es darf als erstes Betriebssystem auch für autonome Fahrzeuge weltweit uneingeschränkt in die Serienproduktion gehen. Apex OS erfüllt die internationale Sicherheitsnorm ISO 26262 ASIL D, nach der es zu weniger als zehn Ausfällen in zehn Milliarden Betriebsstunden kommen darf.
Open Source-Software als Basis
"Unser System basiert auf einer Open Source-Software, deren Programmiersprache, der sogenannte Quellcode, frei zugänglich ist und beliebig genutzt werden darf", sagt Becker. Die Software stammt aus der Roboter-Technik. Sie heißt ROS, Robot Operating System, und existiert bereits seit mehr als zehn Jahren. So gut wie jeder Autohersteller nutze diese Software bereits bei der Prototypen-Entwicklung von Fahrassistenzsystemen oder autonomen Fahrzeugen, erläutert der Apex AI-Gründer.
"In der Rekordzeit von nur drei Jahren haben wir diese Open Source-Software, die eigentlich Forschungs- und Entwicklungszwecken dient, tauglich für den Serieneinsatz gemacht", beschreibt Becker die besondere Leistung seines kleinen Teams.
Der Clou: Jeder andere Automobilhersteller könne Apex OS als Plattform für eigene Anwendungen und Programme verwenden. Sie sei anwenderneutral, ein "White Label", wie es in der Fachsprache heißt. Für Becker und sein Team erschließt sich damit ein riesiger Kreis potentieller Kunden.
Autobauer und Investoren stehen Schlange
"Das ist zum Glück für uns keine komplett neue Situation", sagt Becker. "Unsere ersten Geldgeber waren Finanzinvestoren aus dem Silicon Valley, aber bereits ein Jahr nach der Firmengründung gab es Interesse aus der Automobilindustrie." Schon bald verzeichnete sein Startup Minderheitsbeteiligungen von Branchengrößen wie Volvo, Land Rover, Jaguar, dem deutschen Zulieferer Hella, aber auch vom europäischen Luft- und Raumfahrt-Konzern Airbus, da Apex OS letztendlich für alle intelligenten Mobilitätssysteme anwendbar ist. Vor allem Toyota gehört zu den frühen Investoren, jetzt ist der Weltkonzern auch Partner und Kunde.
Jan Becker zählt international zu den Pionieren des automatisierten Fahrens. Der 50-jährige Ingenieur ist in Deutschland und den USA aufgewachsen. Ende der 1990er-Jahre promovierte er über Regeltechnik an der Uni Braunschweig im Rahmen eines Forschungsprojekts für autonomes Fahren von Volkswagen. Es folgten einige Jahre beim weltgrößten Autozulieferer Bosch, für den er 2006 ins Silicon Valley nach Palo Alto wechselte, wo er heute noch lebt. Seit mehr als zehn Jahren lehrt Becker quasi nebenbei an der Elite-Universität Stanford am gleichen Ort.
Nach einem kurzen Abstecher zum schillernden amerikanisch-chinesischen Elektroauto Startup Faraday Future gründete der Ingenieur zusammen mit Dejan Pangercic, einem gebürtigen Slowenen und langjährigen Freund aus Studientagen, die Firma Apex AI im kalifornischen Palo Alto. 2018 folgten dann eine Niederlassung in München und kürzlich eine in Berlin.
Geplant sind Dependancen in Stuttgart, wo sich die Firmensitze von Daimler und Porsche befinden, aber auch in Japan und anderen asiatischen Staaten. "Unsere Belegschaft wird dann sicherlich von jetzt gut 50 Mitarbeitenden auf einige hundert wachsen", sagt Becker.
Community gegen Kommerz - nur ein scheinbarer Gegensatz
Der Erfolg von Apex OS beruht auf der Weiterentwicklung und Modifizierung der Open Source Software ROS - Robot Operating System, die nur durch Mitwirkung und idealistisches Engagement unzähliger Programmierer überhaupt erst möglich wurde. Wie reagiert diese Community auf die kommerzielle Verwertung eines im Sinne der Gemeinnützigkeit erschaffenen Systems?
"Das ist eine sehr gute Frage", erwidert Jan Becker schmunzelnd, als habe er genau darauf gewartet. Bei dem von der Community betriebenen System gebe es zehn- bis zwanzigtausend Programmierer, die die Codes erstellten. Wie bei allen Open Source-Projekten stehe dahinter eine gemeinnützige, also nicht profit-orientierte Stiftung. Bei Linux beispielsweise sei das die Linux-Foundation, bei ROS eben die Open Source Robotics Foundation.
"Mit dieser Stiftung und der Community sind wir sehr eng verbunden, weil wir seit der Gründung 2012 selbst dazu gehören und zu den Entwicklern der ersten Stunde zählen", sagt Becker. "Ein erheblicher Teil unserer Arbeit fließt direkt ins Open Source System zurück. Wir beseitigen Software-Fehler und Bugs und fügen Verbesserungen und neue Features hinzu." So bleibe ROS auch für Anwendungen in der Forschung, beispielsweise an Universitäten, ein wichtiges Werkzeug.
"Es würde zu Recht nicht gut ankommen, wenn wir nur Geld damit machen und nichts zurückgeben", betont Becker, "aber das ist nicht der Fall, weil wir eben selber von Grund auf Open Source-Entwickler sind."