Aquakulturen - Fluch oder Segen?
2. Juni 2024Bremerhaven an der deutschen Nordseeküste: Im beschaulich-historischen Fischereihafen riecht es nach Fish and Chips. Fangschiffe gibt es hier schon lange nicht mehr. Stattdessen reihen sich Räuchereien, Restaurants und Souvenirläden aneinander. Direkt daneben steht das sehr moderne Glas-und-Stahl-Gebäude des Thünen-Instituts für Fischereiökologie, das hier im Auftrag des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft die Themenbereiche Meeresumwelt, Aquakultur sowie Biodiversität und Wanderfische untersucht.
In die Forschungsanlage im Erdgeschoss gelangt man nur durch eine Hygieneschleuse. Dahinter schwimmen verschiedene Fischarten unterschiedlicher Größe in gut einem Dutzend Wasserbassins. Ein leicht muffiger Geruch liegt in der Luft - wegen der Feuchtigkeit, erklärt Ulfert Focken: "Hier in der Warmwasserhalle sind verschiedene Becken, wo wir Tiere des warmen Bereiches halten. Das sind hier bei uns in erster Linie Karpfen und daneben auch tropische Garnelen, die sogenannte Pazifische Weißbein-Garnele. Wir machen hier Forschung in erster Linie zur Haltung und Fütterung dieser Arten."
Seit gut 30 Jahren beschäftigt sich der Spezialist für Aquakultur und Fischernährung mit der Erzeugung von Organismen, die im Wasser leben. Im Gegensatz zur Fangfischerei werden in der Aquakultur Lachse, Karpfen oder Tilapia, aber auch Krebse, Muscheln und Algen unter kontrollierten Bedingungen aufgezogen. Aquakultur ist sozusagen Landwirtschaft unter Wasser. "Die Aquakultur hat in vielen Kontinenten, gerade in Asien, einen Stellenwert, der dem der Agrikultur, der Landwirtschaft, entspricht. Ohne Aquakultur hätten wir keine Chance, den Menschen zu ernähren", sagt Reinhold Handel, der Leiter des Thünen-Instituts für Fischereiökologie.
Zuchtfisch immer begehrter
Der weltweite Fischkonsum hat sich seit Mitte der 1980er-Jahre mehr als verdoppelt. Das liegt ausschließlich an der Aquakultur: Vor 40 Jahren hatte diese mit gut sieben Millionen Tonnen einen Anteil von noch nicht mal zehn Prozent am weltweiten Fischkonsum. 2020 trug sie mit 88 Millionen Tonnen bereits 49 Prozent und damit in etwa genauso viel zum weltweiten Fischkonsum bei wie die Fischfangindustrie. Zählt man die Algenzucht hinzu, produziert Aquakultur sogar mehr aquatische Nahrung als die Fangfischerei, deren Gesamtproduktion seit Mitte der 1980er Jahre nahezu stagniert.
Das liegt vor allem an einem Land: China produzierte mit Abstand den meisten Fisch aus Aquakultur, 2020 waren es fast 37 Millionen Tonnen. Zum Vergleich: In Europa kamen 2020 gerade mal drei Millionen Tonnen Fisch aus Aquakultur.
Aber ist die Produktion jeder Fischart sinnvoll und nachhaltig, um alle Menschen satt zu bekommen? Was ist etwa mit dem in Deutschland und vielen anderen Ländern beliebtesten Speisefisch, dem Lachs? "Jeder weiß, der Lachs hat nun mal ein relativ hohes Grundbedürfnis an Nahrungsqualität als Fleischfresser", sagt Reinhold Hanel. Dasselbe gelte auch für den Thunfisch, die Dorade und den Wolfsbarsch. "Das sind alles Fische, die nicht für die Welternährung gezüchtet werden", schränkt Hanel ein, "sondern um einen Nischenmarkt zu bedienen."
Tiermehle und Pflanzenproteine für Raubfische
In ihrem natürlichen Habitat ernähren sich Raubfische wie Thunfisch, Dorade, Wolfsbarsch oder Lachs von anderen Fischen und Krebsen. In der Aquakultur bekommen die Zuchtfische heute in der Regel aber keine zehn Prozent Fischanteil mehr. Woraus bestehen die anderen 90 Prozent des Futters? "Es sind in gewissen Mengen Tiermehle, aber der überwiegende Teil sind Pflanzenproteine. Und da in erster Linie auf Soja basierende Proteine", sagt Ulfert Focke. "Das ist natürlich keine natürliche Nahrung für den Lachs. Die Evolution von Landpflanzen und Fischen hat getrennt voneinander stattgefunden. Wenn wir den Lachsen und anderen Fischen einfach rohes Sojamehl geben, dann führt es zu chronischer Darmentzündung."
Das bedeutet: Das pflanzliche Futter muss industriell aufbereitet, die Proteine isoliert werden - und das Sojafutter vom anderen Ende der Welt, aus Südamerika, erstmal in die Fischzuchtanlagen in Norwegen, Island oder dem Mittelmeer transportiert werden. Zur Ernährung einer wachsenden Weltbevölkerung sind Raubfische daher eher ungeeignet. Gleichwohl haben die wissenschaftliche Untersuchungen des Thünen-Instituts die Vorzüge von Fischzucht ganz grundsätzlich nachgewiesen. "Für Aquakulturen braucht es deutlich weniger Ressourcen als für terrestrische Organismen wie Rind, Schwein oder Huhn. Fisch eignet sich sehr gut, um mit relativ wenig Energie-Input relativ viel an Nahrung zu produzieren."
Hinzu kommt: Die ganz großen Schwächen der industriellen Fischzucht gäbe es heute nicht mehr, so Reinhold Hanel: "Die Kinderkrankheiten haben wir in den letzten Jahrzehnten sozusagen durchgemacht. Die Lachszucht ist ein klassisches Beispiel, wo alle Fehler gemacht wurden, kippende Fjorde, Antibiotika-Einsatz und Viruserkrankungen. Jetzt hat sich die Industrie so weit etabliert, dass die Dinge besser sind als früher."
Tierwohl: Auch für Fische?
Und wie geht es den Fischen - wenn wie in der Lachszucht 100.000 Fische 18 Monate dicht zusammengedrängt in einem kleinen Netz leben und dann geschlachtet werden? Für die Industrie ist das hoch profitabel – aber was weiß die Forschung, wie diese Tiere sich fühlen? Institutsleiter Hanel: "Das Thema Tierwohl wird immer bedeutender und ist auch ein Hauptgegenstand unserer Forschung", sagt Institutsleiter. "Mittlerweile geht die Diskussion eher dahin, dass auch Fischen ein Schmerzempfinden zugestanden wird."
Das andere sei die Konsumentenwahrnehmung, die nicht immer nur etwas mit Rationalität, sondern auch viel mit Psychologie zu tun habe. Das heißt, "es werden Dinge wie die Haltungsdichte, die man von anderen Nutztieren etwa aus der Hühnerhaltung kennt, auf Fische projiziert." Da kämen häufig falsche Wahrnehmungen dazu - in dem Glauben, dass je weniger dicht Fische gehalten werden, umso besser gehe es ihnen. "Was nicht immer der Fall, denn das hängt sehr stark von der Art ab."
Und welcher Fisch ist tatsächlich nachhaltig, wenn man als Konsument die Auswirkungen auf Natur und Fische berücksichtigen will? "Wer ihn unter ökologischen Gesichtspunkten konsumiert, der landet beim Karpfen, der auch nicht modrig sein muss", sagt Reinhold Hanel. Oder auch bei importierten Fischarten wie der Tilapia. Denn ihr ökologischer Fußabdruck - in Süßwasser-Teichen produziert - "ist deutlich geringer als von einer Dorade aus der Netz-Käfighaltung im Mittelmeer".