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Architektur trifft auf Wirklichkeit

Mathias Stamm27. Mai 2016

Jana Revedin forciert einen Paradigmenwechsel in der Architektur. Die Architektin und Professorin verlangt von ihren Kollegen, dass sie Antworten auf die Fragen unserer Zeit bauen.

Die Architektin und Nachhaltigkeitsexpertin der UNESCO Jana Revedin (Foto: Gernot Gleiss)
Bild: Gernot Gleiss

DW: Frau Revedin, Sie empfehlen Ihren Studenten, NICHTs zu bauen - wenn sie die Gesellschaft verändern wollen! Wie bitte? Was sollen Ihre Studenten dann machen, wenn sie einmal Architekten sind?

Jana Revedin: Vielleicht erst einmal wieder lernen, zuzuhören und hinzuschauen. Wir entwickeln unsere Meisterklassenprojekte nicht durch unreflektierte Wettbewerbsprogramme, sondern wir gehen in eine Gemeinschaft: in ein Stadtviertel, ein Dorf oder einen Slum. Dort erarbeiten wir gemeinsam mit den Menschen ihre wahren Bedürfnisse. Oft erkennen wir, dass viel von dem, was zur Steigerung von Lebensqualität, von Selbstentwicklung benötigt wird, schon da ist. Unser Planet ist voller neu oder anders nutzbarer Bauten und klug recycelbarer Infrastruktur.

Sie verlangen einen Wandel in der Architektur, im Denken, im Selbstverständnis der Architekten. Was muss sich ändern, was ist jahrzehntelang falsch gelaufen?

Die wunderbare frühe Moderne der 1920er hatte einen sozial-reformatorischen Anspruch, der erst bei der Welt-Energiekrise in den 1970ern wiederentdeckt wurde. Das vermeintliche "Endloswachstum" ab den 1980ern hat Architekten zu kommerziellen Medien-Stars degradiert. Architektur wurde plötzlich einem Luxus-Produkt gleichgesetzt, statt ihrem wahren Auftrag nachzukommen, dem Schaffen besserer Lebensbedingungen... für alle! Wir kehren heute, nach Jahrzenten eines selbstherrlich kolonialisierenden "International Style" wieder zu Menschen- und nicht Auto-gerechten Städten zurück. Wir entdecken heute die einmaligen Qualitäten eines Ortes wieder: seine Geografie, Geologie, Ökonomie, sein Klima, seine Kultur, seine Ressourcen, ... seine Menschen!

Was sind die Herausforderungen, denen sich Architekten heute stellen müssen?

Die Architekten von Al Borde aus Ecuador beziehen bei ihren Projekten die Menschen vor Ort mit einBild: Frank Ooms

Den zweifelhaften Herausforderungen einer ungesunden Globalisierung, die unserem Handwerk nicht gemäß ist. Jeder ist frei, selbst zu entscheiden. "Sapere aude", sagte Kant. Aber nach meiner Erfahrung sind nur die Gedanken, die Worte, die Theorie und die Innovation unserer Lehre frei. Gebaut wird vor Ort. Der Architekt gehört auf die Baustelle! Ich rate jedem meiner Talente, ihr Wissen an ihrem Ort, in ihrer Region, ihrem Land, ihrer Gemeinschaft anzuwenden und sich dort nützlich, ja unerlässlich, unersetzbar zu machen.

Müssen Architekten zunehmend zum Stadtplaner werden - und auch Denkweisen von Sozialarbeitern annehmen, um die Bedürfnisse der Menschen erfüllen zu können?

Architektur war immer Bauhütte. Ein Schmelztiegel verschiedenster Forschungsrichtungen, ein Labor undenkbarer, ja unvorstellbarer Denk-, Handwerks- und Konstruktionsmodelle. Die "verantwortlichste Wissenschaft", wie Goethe sie nannte, weil sie alle anderen vereint. Vitruv, Baumeister der Antike, definierte die fundamentale Eigenschaft eines Architekten: die Neugier! "Lasst ihn neugierig sein!" - und zählte dann die vielen wissenschaftlichen Fächer auf, in denen sich ein Architekt lebenslang weiterbilden sollte.

Warum haben sich viele Architekten solchen Themen wie Migration, Armut und Nachhaltigkeit lange verweigert? Ging und geht es ihnen wirklich nur darum, die eigenen Egos zu befriedigen, indem sie Monumentalbauten errichten, die ihnen den Ruhm der Nachwelt sichern?

Womöglich. Sie sollten diesen Kollegen diese Frage stellen.

Das Konzept des Star-Architekten ist also überholt?

Meine Studenten machen innerhalb meiner zweijährigen Meisterklasse ein halbjähriges Berufspraktikum und müssen sich dafür bei Architekturbüros ihrer Wahl bewerben. Wissen Sie, wie lange ich schon keinen klingenden "Star"-Namen mehr auf ihren "Wunschzetteln" gesehen habe? Seit beinahe zehn Jahren. Diese kommende Generation von Architekten - und die ist herrlich vielversprechend - will in engagierte Büros gehen, in denen sie beste, angemessenste Architektur machen und nicht "Star"-Erfolgsrezepte weiter stricken...

Architekten wie Zaha Hadid haben mitunter Kunstwerke, also monumentale Skulpturen geschaffen. So wirkte es jedenfalls oft. Wäre es nicht auch traurig, wenn es bei aller Problemlösung künftig gar keine Ikonen mehr gäbe?

Eine moderne Ikone: der chinesische Architekt Wang ShuBild: picture-alliance/dpa

Warum keine Ikonen? Wir brauchen Ikonen! Heute ist eine reformatorische Lehre wie im Rural Studio in Alabama, im chilenischen Talca oder bei Al Borde in Ecuador Ikone. Heute ist mein chinesischer Freund und Rebellen-Kollege Wang Shu Ikone, der die weggeworfene Kultur seines Landes in Mahnmäler kollektiver Erinnerung verwandelt. Heute ist eine Salma Samar Damluji Ikone, die im Jemen tausendjährige Lehmbauten vor extremistischen Fanatikern rettet. Heute ist ein Francis Kéré Ikone, der sich aus dem tiefsten Afrika nach Deutschland aufmacht, um dort die Techniken zu erlernen, die er braucht, um in seinen Heimatdörfern in Burkina Faso Schulen zu bauen ...

Was fasziniert Sie an diesen Projekten?

Dass dort ein echter Kampf an den Fronten der Armut, der Ungleichheit, der Unterdrückung, der Völkerwanderung, des Terrors, aber auch blinder Bürokratie und sturen Machterhalts gefochten wird - natürlich immer mit dem Anspruch höchster Gestaltungsqualität. Alejandro Aravena nimmt diesen Avantgarde-Kampf als Motto für die diesjährige Biennale auf: "Reporting from the Front". Wir berichten von der Front. Wir sind an der Front. Daher finde ich auch das Foto des Biennale-Plakats von Bruce Chatwins Freundin im Patagonischen Hochland so treffend. Um sich einen Überblick über dieses unbekannte Terrain zu verschaffen, steigt die Anthropologin mitten in der Wüste auf eine Leiter. Vielleicht fühlte ich mich 2007 bei der Verleihung meiner ersten Global Awards so wie diese Frau auf ihrer Leiter ...

Bild: picture alliance/dpa/Bruce Chatwin/Travillion Images

Sie verleihen seit 2007 den Global Award for Sustainable Architecture. Erkennen Sie mittlerweile einen Sinneswandel in der Branche?

Es ist beinahe erschreckend, wir sind inzwischen zum mainstream geworden. Als ich den Global Award 2006 ins Leben rief und in Paris ansiedelte, war das Wort "sustainable", also "nachhaltig" noch nicht ins Französische übersetzt. Man stritt sich um "durable", anhaltend, "eco-responsable", öko-verantwortlich oder "vert", grün. Nichts von alledem deckt das wahre Prinzip der - botanischen - Nachhaltigkeit ab, das 1713 so brillant von Hans Carl von Carlowitz definiert wurde: "nicht mehr Bäume fällen als in gleicher Zeit nachwachsen können." So einfach! Diese holistische Definition der Nachhaltigkeit ist inzwischen, denke ich, weltweit angenommen worden.

Wie beurteilen Sie die diesjährige Biennale? Alejandro Aravena, den Sie für seine Pionierleistungen im sozialen Wohnbau schon im Jahr 2008 mit einem Global Award ausgezeichnet haben, erhielt ja dieses Jahr sogar den renommierten Pritzker-Preis.

Was kann ich noch sagen, wenn die Hälfte der Kuratoren der Biennale-Schauen meine Preisträger sind? Der Paradigmenwechsel ist manifest! Ich kann nur still werden, angesichts dessen.

Die Stadt der Zukunft, die Architektur der Zukunft - wie sieht sie aus?

Offen. Voller Leben. Still auch. Und grün.

Jana Revedin wurde 1965 in Konstanz geboren. Sie ist Architektin und Professorin am Pariser École Special d'Architecture. Die Nachhaltigkeitsexpertin der UNESCO wurde vielfach ausgezeichnet, 2014 wurde sie zur Ritterin der französischen Ehrenlegion ernannt. 2007 hat sie den "Global Award for Sustainable Architecture" gegründet und zeichnet jährlich fünf Architekten für nachhaltige Projekte aus.

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