Sind die Pestizide schuld?
11. November 2013Sofía Gatica sitzt auf der sonnigen Terrasse eines Cafés im argentinischen Córdoba. Drei Kinder hat sie hier im Stadtteil Ituzaingó großgezogen, der ringsum von Sojafeldern umgebenen ist. Sie erinnert sich, dass ihr ältester Sohn Mitte der 1990er Jahre plötzlich sehr krank wurde. "Als er vier Jahre alt war, bekam er eine Krankheit, die ihn zeitweilig lähmte", sagt sie. Er kam ins Krankenhaus, aber die Ärzte hatten keine Ahnung, was der Junge hatte.
Die Familie Gatica lebte nur 50 Meter von einem Feld mit genmodifiziertem Soja entfernt. Regelmäßig wurden die Pflanzen von Flugzeugen aus der Luft mit dem Pflanzenschutzmittel Glyphosat besprüht. Allmählich erkrankte dann der gesamte Vorort. "Kinder wurden mit Fehlbildungen geboren", erzählt sie: Babys mit sechs Fingern, ohne Kieferknochen, mit einem fehlenden Schädelknochen, mit Nierenmissbildungen oder ohne After. Viele Eltern bekamen Krebs.
1999 kam Sofía Gaticas viertes Kind zur Welt, ein Mädchen. Drei Tage nach der Geburt starb das Kind an Nierenversagen. Der Tod ihrer Tochter veranlasste Gatica zum Handeln: Sie wollte herausfinden, was in ihrer Nachbarschaft los war. "Ich ging von Tür zu Tür und fragte jede Mutter nach dem Namen der kranken Person, nach der Adresse und der Klinik. Und jede Mutter schickte mich zur nächsten."
Gesundheitsprobleme überall
Bald gesellten sich andere besorgte Frauen zu Sofía Gatica, und die Gruppe nannte sich die "Mütter von Ituzaingó". Sie präsentierten ihre Studie der Regierung und forderten eine sofortige Untersuchung. 2002 stimmte die Regierung zu. Das Ergebnis war alarmierend: Die Wasservorräte der Region waren verseucht, und im Blut von 80 Prozent der Kinder in dem Stadtteil fanden sich Pflanzenschutzmittel.
Etwa zur gleichen Zeit bewies Andrés Carrasco, Arzt an der Universität von Buenos Aires, dass das Pflanzenschutzmittel Glyphosat Geburtsschäden bei Wirbeltieren verursachen kann. "In den meisten Fällen stirbt der Fötus aufgrund der Missbildungen bereits vor der Geburt", meint Carrasco im Gespräch mit der DW. "Die Einnahme des Pflanzenschutzmittels tötet den Embryo." Wie die Nachrichtenagentur Associated Press (AP) berichtet, gibt es in ganz Argentinien ähnliche Fälle. Pflanzen- und Insektenschutzmittel des US-Agrarkonzerns Monsanto wehen durch die Wohngebiete und sickern in Wasserquellen. Gleichzeitig benutzen Bauern die Chemikalien ohne richtige Schutzmaßnahmen - in leeren Pflanzenschutzmittelbehältern werden Wasser und andere Lebensmittel gespeichert.
Der AP-Bericht spiegelt auch die wachsende Sorge der Ärzte wieder. Denn diese warnen, die Chemikalien könnten der Grund für ansteigende Krebsraten, Geburtsfehlbildungen und Atemkrankheiten sein. Im argentinischen Santa Fe sind die Krebsraten angeblich zwei bis viermal höher als im nationalen Durchschnitt. In Chaco haben sich Geburtsschäden in den vergangenen zehn Jahren vervierfacht - seit der Einführung der Biotechnologie zur Verbesserung der Ernteerträge.
Monsanto reagiert verhalten
Monsanto sieht dennoch keinen Zusammenhang zwischen dem Sprühen der Chemikalien auf den Feldern und den Erkrankungen in nahegelegenen Gemeinden. Gegenüber der Deutschen Welle erklärt Tom Helscher, zuständig für Unternehmensangelegenheiten bei Monsanto: "Das Fehlen von zuverlässigen Daten macht es sehr schwer, Trends bei Krankheiten auszumachen - oder noch viel schwerer, beiläufige Zusammenhänge nachzuweisen. Unseres Wissens gibt es keine nachweisbaren beiläufigen Zusammenhänge."
Monsanto dulde keinen Missbrauch von Pestiziden oder das Nichteinhalten von Pestizidgesetzen, erklärt der Experte. "Monsanto nimmt die Produktverantwortung ernst", schreibt Helscher. "Wir kommunizieren regelmäßig mit unseren Kunden bezüglich der korrekten Anwendung."
Pestizide zur Ernährungssicherung
Mitte der 1990er Jahre präsentierte Monsanto gentechnische veränderte (GMO) Sojabohnen, resistent gegen Pflanzeschutzmittel. Argentinische Bauern pflanzten die Bohne, die sich als ergiebig erwies - und Argentinien mauserte sich zum drittgrößten Sojaproduzenten weltweit. Trotz einer stetig wachsenden Bewegung gegen Pflanzenschutzmittel und genmanipulierte Pflanzen sind viele argentinische Bauern nach wie vor davon überzeugt, dass die wirtschaftliche Stabilität und die zukünftige Nahrungsmittelsicherheit des Landes von der weiteren Nutzung von Monsanto-Produkten abhängen.
César Soldano beackert seit drei Jahrzehnten seine Felder in Córdoba und der Provinz Santiago del Estero. Im Frühjahr und im Sommer pflanzt er Soja und Mais, im Winter Weizen und Kichererbsen. Sehr ergiebig war sein Land nicht - bis er anfing, gentechnisch veränderte Sojabohnen anzubauen und Glyphosat zu versprühen. "Das war hier alles Buschland", meint Soldano, und zeigt auf seine Felder. Dank dem Glyphosat habe sich die Landschaft verändert.
"Bei den Roundup-Ready-Sojabohnen von Monsanto muss man die Erde nicht mehr umgraben", sagt Soldano. "Denn das Glyphosat zerstört jegliches Pflanzenwachstum - nur nicht das Soja." So spare man Wasser und könne trotzdem Pflanzen anbauen. Soldano fährt über die Felder, und erklärt sein Bewässerungssystem. Die grünen Keime werden bald ausgewachsene Kichererbsen-Pflanzen sein, sagt er. Vor der Einführung von Glyphosat führten landwirtschaftliche Verfahren zu Erosion, der Wasserspiegel in der Region sank und chlorhaltige Unkrautvernichter - mittlerweile international verboten - belasteten die Umwelt.
"Unsere Felder waren nicht produktiv", so Soldano weiter. Aber als die technologischen Neuerungen eingeführt wurden, habe sich alles radikal geändert. "Der Mensch, dem es gelungen ist, den Zellkern der Pflanze zum Nutzen unserer Agrargüter zu verändern, gebührt der Nobelpreis." Genmodifiziertes Soja habe auch eine große Bedeutung für die argentinische Wirtschaft, meint Soldano: Immerhin mache die Soja-Steuer fast 10 Prozent des nationalen Haushalts aus.
Anschläge auf Anti-GMO-Aktivisten
Sofía Gatica glaubt allerdings nicht, dass kurzfristige wirtschaftliche Vorteile den langfristigen Schaden wettmachen. Ihre Proteste gegen gentechnisch veränderte Pflanzen und die dazugehörigen Pestizide machen sie zur Zielscheibe. Zwei Jahre lang wurde sie von einer Frau belästigt, die sie regelmäßig auf der 40-minütigen Busfahrt zur Arbeit beleidigte. Einmal erschien ein Mann an ihrer Haustür, bedrohte sie mit einem Gewehr und forderte sie auf, den Kampf gegen die Sojabauern aufzugeben, erinnert sich Gatica. "Dann begannen die Drohanrufe." Die Anrufer drohten, aus drei könnten schnell zwei Kinder werden. "Es war schlimm, nicht zu wissen ob dein Kind nach Hause kommt."
Gatica setzt sich nach wie vor gegen Pestizide und gentechnisch veränderte Pflanzen ein. Und allmählich wächst auch der Rückhalt für die Aktivisten. "Jeder fordert pestizidfreie Landstreifen, Pflanzenschutzmittel sollen nicht in der Nähe von Menschen gesprüht werden", erklärt Gatica. Manche Orte hätten mittlerweile bis zu 2500 Meter breite Freiflächen als Puffer zu den betroffenen Feldern eingerichtet. "Jetzt haben wir sauberes Wasser in Ituzaingó, vorher war es nicht trinkbar. Und in Córdoba gibt es ein Krebs-Register, auch so etwas gab es vorher nicht."
In einer richtungweisenden Entscheidung wurden im vergangenen Jahr ein Sojabauer und ein Sprühflugzeug-Pilot wegen Vergiftung der Bevölkerung mit giftigen Pestiziden verurteilt, erklärt Enrique Viale, Präsident des argentinischen Verbandes der Umweltjuristen. "Ein Gericht in Córdoba fällte ein Urteil das, zum ersten Mal, einen Bauern wegen Umweltverschmutzung mit Pestiziden zur Verantwortung zog", so Viale. "Das Urteil ist das Ergebnis der Bemühungen von Bürgern, von Frauen wie Sofía Gatica, von den 'Müttern von Ituzaingó'." Es ei ein wichtiges Beispiel, nur leider noch nicht verbreitet genug.