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PolitikArmenien

Armenien und Aserbaidschan: Neuer Krieg um Berg-Karabach?

19. September 2023

Seit Jahrzehnten schwelt zwischen Armenien und Aserbaidschan ein Konflikt um die Region Berg-Karabach. Jetzt sind erneute Gefechte ausgebrochen.

Zerstörte PKW in einer Straße
Für die internationalen Friedensbemühungen ist die jüngste Eskalation ein herber RückschlagBild: Oldhike/TASS/dpa/picture alliance

Mehrere Städte der Kaukasus-Region Berg-Karabach sollen von Aserbaidschan angegriffen worden sein, meldeten örtliche Behördenvertreter. "Im Moment stehen die Hauptstadt Stepanakert und andere Städte und Dörfer unter intensivem Beschuss", erklärte die in Armenien ansässige Vertretung von Berg-Karabach auf Facebook. Aserbaidschan habe eine "groß angelegte Militäroffensive" gestartet. Das Verteidigungsministerium in Baku sprach demgegenüber lediglich von einer „Antiterroroperation lokalen Charakters zur Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Ordnung“ in der Region. Ziel sei es, das armenische Militär völlig aus der Region zu vertreiben, heißt es.

Rauchwolken in der Nähe von Berg-Karabachs Hauptstadt StepanakertBild: Mika Badalyan/TASS/dpa/picture alliance

Um Berg-Karabach herrscht seit Jahrzehnten ein erbitterter Streit. Die mehrheitlich von Armeniern bewohnte Region ist geografisch vollständig umgeben von Aserbaidschan. Nur eine Zugangsstraße, der so genannte "Latschin-Korridor", verbindet sie mit dem Staat Armenien, über den sie mit Gütern versorgt wird - normalerweise.

Doch seit Dezember 2022 wird diese Straße von Aserbaidschan blockiert. Seitdem ist die Region weitestgehend von der Außenwelt abgeschnitten. Anfangs konnten zumindest das Internationale Rote Kreuz und russische Truppen, die eigentlich ein 2020 zwischen Armenien und Aserbaidschan ausgehandeltes Waffenstillstandsabkommen überwachen sollten, noch Hilfsgüter in die Region bringen. Doch im Juni, nach einem Gefecht zwischen armenischen und aserbaidschanischen Soldaten an der gemeinsamen Grenze, verschärfte Aserbaidschans Machthaber Ilham Alyev die Blockade, so dass die Einwohner der Enklave von da an auf sich allein gestellt waren.

Leere Regale in einem Lebensmittelladen in Stepanakert Bild: Privat

Wie viele Menschen genau in dieser Situation aushalten müssen, ist nicht bekannt. Armenischen Angaben zufolge sollen es 120.000 sein, Aserbaidschan spricht von deutlich weniger Bewohnern.

Blockade hier, Beratungen dort

Dabei befanden sich Armenien und Aserbaidschan eigentlich seit Monaten in Verhandlungen über ein Ende des Konfliktes, der schon seit Jahrzehnten andauert. Schon Anfang der 1990er Jahre, kurz nach dem Zerfall der Sowjetunion, brach ein erster Krieg zwischen den beiden Staaten aus. Seitdem kam es immer wieder zu Zwischenfällen entlang der Grenze, deren Verlauf bis heute nicht überall eindeutig festgelegt ist.

Die Region Berg-Karabach liegt geografisch vollständig in Aserbaidschan, das sich in seinem Anspruch auf das Gebiet auf das Prinzip der territorialen Integrität beruft. Sie ist aber mehrheitlich von Armeniern bewohnt, weshalb Armenien auf die Selbstbestimmung der Bevölkerung pocht. Teile Berg-Karabachs hatten sich schon 1991 für unabhängig erklärt. Das erkennt jedoch kein Staat der Welt an, nicht einmal Armenien - vermutlich, weil es die Friedensverhandlungen mit Aserbaidschan nicht von vornherein unmöglich machen wollte.   

Im Jahr 2020 brach um die Region ein zweiter Krieg zwischen beiden Staaten aus. Vorläufig beendet wurde er durch ein von Moskau vermitteltes Waffenstillstandsabkommen, das Aserbaidschan half, Teile des umstrittenen Gebietes wieder unter seine Herrschaft zu bekommen. Russische Truppen sollten das Waffenstillstandsabkommen eigentlich überwachen. Dennoch hiellten die Spannungen weiter an, und es kam immer wieder zu tödlichen Auseinandersetzungen zwischen beiden Konfliktparteien. Insgesamt kamen seit Ausbruch des Konfliktes Schätzungen zufolge bislang rund 35.000 Menschen ums Leben. Hunderttausende Menschen mussten fliehen.

Fruchtlose Friedensverhandlungen?

In Brüssel, Washington und Moskau, unter Vermittlung der EU, der USA oder Russlands, trafen sich Vertreter aus Baku und Jerewan in den vergangenen zwei Jahren schon mehrfach, um das fragile Waffenstillstandsabkommen in einen dauerhaften Friedensvertrag umzuwandeln. Allein unter EU-Vermittlung hat es bereits sechs Verhandlungen gegeben. Im Mai überraschte Armeniens Präsident Nikol Paschinyan dabei mit der innenpolitisch umstrittenen Ankündigung, dass er Berg-Karabach als Teil Aserbaidschans anerkennen könnte, solange die Armenier dort als geschützte Minderheit umfassende Rechte und Sicherheitsgarantien erhielten.

Die selbst ernannte, aus ethnischen Armeniern bestehende "Regierung" Berg-Karabachs, das sich seit 2017 "Republik Arzach" nennt, lehnt eine Integration in den aserbaidschanischen Staat bislang jedoch vehement ab. Und auch Aserbaidschans Staatschef Ilham Aliyev zeigte an einer solchen Lösung bislang kein Interesse. Mehrfach forderte er in der Vergangenheit, Regierung und Parlament der "Republik Arzach" aufzulösen und die dort lebenden Armenier als "normale, loyale Bürger" in Aserbaidschan zu integrieren. Aliyev hatte den eingeschlossenen Armeniern vor diesem Hintergrund zuletzt angeboten, sie selbst mit Hilfsgütern zu beliefern; diese aber lehnten das aus ihrer Sicht "vergiftete" Angebot bislang ab.

Schon mehrfach trafen sich Aserbaidschans Staatschef Ilham Alijew (links) und Armeniens Premier Nikol Paschinjan (rechts)zu Friedensgesprächen in BrüsselBild: Dursun Aydemir/AA/picture alliance

Welche Rolle spielen die Nachbarstaaten?

Zusätzlich verkompliziert wurden die Verhandlungen durch die Interessen der benachbarten Mächte in der Region, allen voran der Türkei und Russlands. Die Regierung in Ankara unterstützte in der Vergangenheit mehr oder weniger offen Aserbaidschan; ein Grund hierfür sind die großen ethnischen und kulturellen Ähnlichkeiten zwischen den turksprachigen Ländern - beide bekennen sich zum Grundsatz "Eine Nation, zwei Staaten". Außerdem ist die Türkei ein wichtiger Abnehmer für aserbaidschanisches Erdgas.

Deutlich komplizierter ist die Situation aus russischer Sicht: Denn Moskau unterhält Verbindungen in beide ehemalige Sowjetrepubliken. Diese sind zwar zu Armenien, das wie Russland eine überwiegend christlich-orthodoxe Bevölkerung besitzt, intensiver. So versorgt Moskau beide Konfliktparteien mit russischen Waffen - nur Jerewan zahlt jedoch einen Vorzugspreis. Zudem unterhält Russland in Armeniens zweitgrößter Stadt Gjumri eine Militärbasis.

Doch bei dem von Moskau zuletzt ausgehandelten Waffenstillstandsabkommen hatte Aserbaidschan die Kontrolle über große Gebiete Berg-Karabachs zurückerlangt; zudem trat die russische Armee, die eigentlich als "Friedenstruppe" den Waffenstillstand zwischen den verfeindeten Ländern überwachen soll, bei den immer wieder aufflammenden Scharmützeln an der Grenze nur sehr zurückhaltend auf. Im Zuge des Ukraine-Krieges hatte Moskau die Präsenz seiner Truppen im Kaukasus deutlich verkleinern müssen. Noch ist unklar, wie Moskau auf die erneute Eskalation im Kaukasus reagieren wird. An einer kriegerischen Destabilisierung der Region dürfte Moskau keinerlei Interesse haben. Offenbar gelingt es dem Kreml, dessen Aufmerksamkeit in der Ukraine gebunden ist, allerdings nicht mehr, die fragile Stabilität im Südkaukasus aufrechtzuerhalten. Dazu passen auch Berichte, denen zufolge Russland nur wenige Minuten vor deren Beginn von der aserbaidschanischen "Militäroperation" unterrichtet worden sein soll.

Und auch für die internationalen Friedensbemühungen ist die jüngste Eskalation ein herber Rückschlag. Bis zum Herbst sollte eigentlich nach dem Willen internationaler Diplomaten ein tragfähiges Friedensabkommen zwischen Armenien und Aserbaidschan zustande kommen. Dies scheint jedoch jetzt in weite Ferne zu rücken.

Dieser Artikel erschien zuerst am 13.08.2023 und wurde am 19.09.2023 aktualisiert.

Berg-Karabach-Blockade: Armenien wendet sich von Russland ab

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Thomas Latschan Langjähriger Autor und Redakteur für Themen internationaler Politik
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