"Nikol, der Verräter". Der armenische Präsident Nikol Paschinjan wird von seinen Landsleuten für das Waffenstillstandsabkommen mit Aserbaidschan kritisiert. Ihren Unmut zeigten sie auf der Straße.
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Trotz eines Versammlungsverbots haben mehr als 2000 Menschen in der armenischen Hauptstadt Eriwan gegen das Abkommen zwischen den beiden Konfliktparteien protestiert. Die Demonstranten hatten sich nach einem Aufruf der Opposition auf dem Freiheitsplatz im Zentrum der Stadt eingefunden. Mit Blick auf den Regierungschef skandierten sie "Nikol, der Verräter" und "Berg-Karabach steht nicht zum Verkauf". Viele forderten den Rücktritt Paschinjans.
Mehrere Menschen wurden festgenommen, darunter der Chef der Oppositionspartei Blühendes Armenien, Gagik Zarukjan. Zum Vorgehen der Polizei gibt es unterschiedliche Angaben. Nach Informationen der Nachrichtenagentur AFP forderten die Sicherheitskräfte zunächst ein Ende der Kundgebung, ließen die Demonstranten aber schließlich gewähren. Die Deutsche Presseagentur berichtet, dass die Polizei mit Gewalt gegen die Teilnehmer des Protests vorgegangen sei.
Abkommen zum Status Quo
Die verfeindeten Nachbarstaaten Armenien und Aserbaidschan hatten sich in der Nacht zum Dienstag nach wochenlangen schweren Kämpfen auf einen Waffenstillstand in Berg-Karabach geeinigt. Das unter Vermittlung Russlands ausgehandelte Abkommen sieht vor, dass beide Kriegsparteien jene Gebiete behalten dürfen, in denen sie derzeit die Kontrolle haben. Für Armenien bedeutet das große Gebietsverluste. Unter anderem gehört dazu Schuscha, die zweitgrößte Stadt, die die Armenier Schuschi nennen.
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Ministerpräsident Paschinjan begründete seine Zustimmung zu dem Abkommen damit, dass die eigene Armee ihn dazu gedrängt habe. Demnach hätte die Gefahr bestanden, dass die rasch vorrückenden aserbaidschanischen Soldaten nach dem Fall Schuschis das gesamte Gebiet unter ihre Kontrolle bekommen.
"Keine Basis für nachhaltigen Frieden"
Die auf Konflikte spezialisierte International Crisis Group warnte vor der Fragilität des Waffenstillstandsabkommens. Aserbaidschan habe im Konflikt um Berg-Karabach militärisch gesiegt und Armenien eine "vernichtende Niederlage" zugefügt, hieß es in einem Bericht der Experten. "Eine Demütigung kann aber keine starke Basis für nachhaltigen Frieden sein."
Zur Kontrolle des Waffenstillstands kündigte Russland die Entsendung von fast 2000 Soldaten und hunderten Armeefahrzeugen an die Frontlinie an. Sie sollen in den kommenden fünf Jahren unter anderem einen Korridor absichern, der den Bezirk Latschin in Berg-Karabach mit dem armenischen Staatsgebiet verbindet.
Berg-Karabach: Kein Frieden in Sicht
Seit mehr als einem Monat sind Aserbaidschan und Armenien wieder im Krieg um die Region Berg-Karabach im Südkaukasus. Drei Waffenruhen sind bereits gescheitert. Zivilisten zahlen einen hohen Preis - auf beiden Seiten.
Bild: Julia Hahn/DW
Wohnviertel in Schutt und Asche
Armenien und Aserbaidschan werfen sich gegenseitig vor, gezielt zivile Ziele zu bombardieren, wie in der Stadt Schuscha in Berg-Karabach. Auch ihre berühmte Kathedrale aus dem 19. Jahrhundert wurde Anfang Oktober in Teilen zerstört. Nach Angaben der Behörden in Berg-Karabach sind aserbaidschanische Truppen bereits bis auf wenige Kilometer an die strategisch wichtige Stadt herangerückt.
Bild: Hayk Baghdasaryan/Photolure/Reuters
Zerstörte Existenz
Ragiba Guliyeva in den Trümmern ihres alten Lebens. Ihr Haus in Aserbaidschans zweitgrößter Stadt Gandscha wurde bei einem Raketenangriff zerstört. "Ich war in der Küche, da fielen plötzlich Balken und Steine auf mich. Ich habe geschrien, so laut ich konnte". Gandscha liegt Dutzende Kilometer entfernt von der Front. Aserbaidschan macht armenische Truppen für den Angriff verantwortlich.
Bild: Julia Hahn/DW
Trauer um die Kinder
Mehrere Menschen wurden bei dem Angriff auf Gandscha getötet, so die aserbaidschanischen Behörden. Auch Ragiba Guliyevas Enkel Artur starb. Er wurde 13 Jahre alt. Bei einem Gottesdienst nehmen Lehrerinnen und Mitschüler Abschied. Die Zahl der getöteten Zivilisten auf beiden Seiten liegt nach offiziellen Angaben inzwischen bei mindestens 130.
Bild: Julia Hahn/DW
Freiwillig an die Front
Etwa 1200 Soldaten, so die Behörden in Berg-Karabach, sind seit Beginn der Kämpfe Ende September gefallen. Aserbaidschan hat bislang keine Angaben zu seinen Verlusten gemacht. Russlands Präsident Wladimir Putin sprach kürzlich von insgesamt 5000 Toten auf beiden Seiten. Trotzdem melden sich junge Männer freiwillig zum Dienst an der Front. Wie hier in Stepanakert, der Hauptstadt Berg-Karabachs.
Bild: Aris Messinis/AFP
Ein historischer Konflikt
Der Konflikt um Berg-Karabach ist Jahrzehnte alt. Die Die Region wird von armenischen Separatisten kontrolliert, gehört aber völkerrechtlich zu Aserbaidschan. Im Krieg vor knapp 30 Jahren verlor Aserbaidschan die Kontrolle über das Gebiet. Seit 1994 galt eine brüchige Waffenruhe. Dieses Gemälde in einer Schule in Barda erinnert an einen Gefallenen.
Bild: Julia Hahn/DW
Einmischung von außen
Im autoritär regierten Aserbaidschan bestimmen Propaganda und Kriegsrhetorik den Alltag. Unterstützung - in Form von Waffenlieferungen und Solidaritätsbekundungen - bekommt die Regierung in Baku aus dem "Bruderstaat" Türkei. Russland gilt als Schutzmacht der armenischen Regierung in Eriwan. Beobachter warnen davor, die beiden Regionalmächte könnten aktiv in den Konflikt eingreifen.
Bild: Julia Hahn/DW
Ausharren im Schutzkeller
Im umkämpften Berg-Karabach sind nach Angaben der örtlichen Behörden zehntausende Menschen auf der Flucht vor den Gefechten. Nach Schätzungen betrifft das etwa die Hälfte der Bevölkerung, also bis zu 75.000 Menschen. Andere harren weiter aus, in Kellern und Schutzbunkern, wie dieser alte Mann.
Bild: Stanislav Krasilnikov/ITAR-TASS/imago images
Bomben und Coronavirus
Das Leben in Schutzbunkern ist für viele Bewohner von Stepanakert, der Hauptstadt von Berg-Karabach, zum Alltag geworden. Es gibt nur wenig Platz, kaum frische Luft. Die Menschen sind hier etwas sicherer vor den Bombenangriffen, doch das Coronavirus breite sich rasant aus, warnen Ärzte. Genau Zahlen gibt es nicht. Die meisten Menschen, die noch in Stepanakert sind, hätten sich infiziert, heißt es.
Bild: Vahram Baghdasaryan/Photolure/Reuters
Notunterkunft statt Klassenzimmer
Auch in Aserbaidschan sind Menschen vor den Kämpfen geflohen. Aus Orten wie Terter etwa, direkt an der Front. Einige haben im benachbarten Barda Zuflucht gefunden, etwa 20 Kilometer von Berg-Karabach entfernt. Mehrere Schulen dort dienen seit Ende September als Notunterkunft. Doch sicher ist es auch hier nicht.
Bild: Julia Hahn/DW
Die Front rückt näher
Bei einem Luftangriff auf Barda vor wenigen Tagen wurden mehrere Gebäude zerstört, Autos brannten komplett aus. Aserbaidschans Behörden meldeten mindestens 21 Tote und Dutzende Verletzte. Die armenische Regierung wies die Angaben zurück und bestritt den Angriff. Aserbaidschans Präsident Ilham Alijew kündigte "Vergeltung auf dem Schlachtfeld" und "Rache" an.
Bild: Julia Hahn/DW
Kein Frieden in Sicht
Die Kämpfe gehen weiter. Aserbaidschan fordert den kompletten Rückzug armenischer Truppen aus Berg-Karabach. Armeniens Regierungschef Nikol Paschinjan hat nun offiziell seinen Verbündeten Russland um Hilfe gebeten. Das Außenministerium in Moskau erklärte daraufhin, man werde "jeden erforderlichen Beistand" leisten, sollten sich die Kämpfe auf armenisches Gebiet verlagern.