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Politik

Großbritannien vor der Wahl

Erik Albrecht Sheffield
6. Juni 2017

Es waren die alten Industrieregionen im Norden Englands, die Großbritannien aus der EU geführt haben. Gerade hier spüren die Menschen die wachsende Ungleichheit im Land. Erik Albrecht berichtet aus Sheffield.

Nordengland vor der Wahl
Bild: DW/E. Albrecht

Hackfleisch, Kartoffeln, ein wenig Käse - im Internet hat Pam ein Rezept für einen skandinavischen Hackbraten aus diesen Zutaten gefunden. Deshalb gibt es heute Hackbraten im Spires Centre. Jeden Freitag kocht das Team des kleinen Gemeindezentrums in Sheffield Mittagessen für jeden, der kommen will.

Für manche ist es die einzige warme Mahlzeit in der Woche. "Noch vor 10 Jahren hätte ich nie gedacht, dass wir eine Lebensmitteltafel betreiben würden", sagt Andrew Keel, der Pfarrer des Spires Centre. "Jetzt öffnen sie überall, weil der Bedarf so groß ist."

Arbourthorne - eine der ärmsten Gemeinden Großbritanniens

Arbourthorne, der Stadtteil von Sheffield, in dem das Zentrum liegt, gehört zu den ärmsten Siedlungen Großbritanniens. Etwa jedes zweite Kind wächst hier in Armut auf. In ganz Sheffield, einer Stadt mit einer halben Millionen Einwohnern, arbeiten mittlerweile 18 Tafeln. Das Spires Centre ist eine der kleineren.

Jeden Freitag ein warmes MittagessenBild: DW/E. Albrecht

Landesweit hat sich die Zahl derer, die nicht genug zum Essen haben, seit 2013 stark erhöht. Damals reformierte die konservative Regierung unter David Cameron das Sozialhilfesystem. Allein der Trussell Trust, der als größtes Netzwerk von Tafeln Großbritanniens etwa jede fünfte Tafel betreibt, betreute im vergangenen Jahr eine halbe Millionen Menschen. Nach Angaben des Netzwerks suchte jeder Vierte Hilfe, während er auf die Auszahlung der Sozialhilfe wartete. Fast genauso viele verdienten zu wenig, um davon zu leben. 

Dabei kann Großbritanniens Premierministerin Theresa May auf den ersten Blick im Wahlkampf auf gute Wirtschaftsdaten verweisen. Die britische Wirtschaft ist in der gleichen Zeit im Schnitt um über zwei Prozent pro Jahr gewachsen. Die Arbeitslosenrate ist eine der niedrigsten der EU. Doch Jobs sind in den vergangenen Jahren vor allem im Niedriglohnsektor entstand. Und längst nicht alle Regionen haben von dem Wachstum profitiert.

Die Resolution Foundation beobachtet derzeit die größte Zunahme an Ungleichheit seit den 80er Jahren.  Schon damals traf die Politik der Privatisierung und De-Industrialisierung unter Premierministerin Margaret Thatcher Englands Norden besonders hart.

Viele in Sheffield können sich nur Sachen leisten aus einem der vielen WohltätigkeitslädenBild: DW/E. Albrecht

Brexit im Mittelpunkt der Debatte

Im Wahlkampf versprechen beide großen Parteien eine gerechtere Gesellschaft. Dennoch drehe sich die Debatte vor allem um den Brexit, beobachtet Matthew Flinders, Politologe an der Universität Sheffield. "Wir sind noch gar nicht bis zu Fragen konkreter Politik vorgedrungen." Für Flinders liegt darin eine Gefahr: Ein wachsender Teil der britischen Bevölkerung fühle sich durch zunehmende Ungleichheit abgehängt. "Wenn sich die Politik dieser Ungleichheit nicht annimmt, wird der Druck weiter wachsen."

Nicht nur die Schere zwischen Arm und Reich gehe weiter auf, sagt Lee Major vom Sutton Trust, einem Think Tank für Bildungsfragen. Gleichzeitig nehme die soziale Mobilität ab. An der Universität Sheffield zeigt er anhand einer Karte von Sheffield und Umgebung, wie brisant die Entwicklung für die britische Politik ist. Es waren vor allem die Gebiete um Sheffield herum mit besonders geringen Aufstiegschancen, die mit großer Mehrheit für den Brexit gestimmt haben.

Spaltung der britischen Gesellschaft

"Das derzeitige System ist nicht nachhaltig", sagt Major. "Die britische Gesellschaft wird eine fundamentale Spaltung erleben, wenn wir nichts tun." Für Major war das EU-Referendum ein Weckruf. "Ich fürchte nur, in der Folge werden die Menschen, die für den Brexit gestimmt haben, noch weniger Chancen haben."

Gerade jene Brexit-Wähler in den traditionellen Labour-Hochburgen wie Sheffield seien bei dieser Wahl am 8. Juni hin- und hergerissen, welcher Partei sie ihre Stimme geben sollen. Denn Theresa May hat einen harten Brexit-Kurs erfolgreich für ihre Konservative Partei beansprucht. Für die Labour-Partei sei es deshalb über weite Strecken des Wahlkampfs schwer, mit ihrer Version einer gerechteren Gesellschaft zu ihren Stammwählern durchzudringen, beobachtet der Politologe Flinders.

Der Brexit habe das britische Parteiensystem auf den Kopf gestellt, sagt Flinders. "Für die Konservativen zu stimmen, ist fast unpolitisch geworden. Als ob es eine Bürgerpflicht wäre, zu zeigen, dass man ein Land will, das stark gegenüber Europa ist."

"Der Staat versagt"

Im Spires Centre stellt Angela Marshall Lebensmittelpakete für ihre Klienten zusammen. "Normalerweise geben wir Nudeln mit Soße, Reis und Fleisch aus der Dose", sagt sie. Essen für drei Mahlzeiten gibt das Spires Centre pro Ration. Ohne das Gemeindezentrum in Arbourthorne wüssten viele nicht, an wen sie sich wenden sollten, sagt Marshall. "Der Staat versagt. Deshalb brauchen sie uns."

Drei warme Mahlzeiten pro LebensmittelpaketBild: DW/E. Albrecht

"Wir sind ein Industrieland und trotzdem haben wir eine Lebensmittelarmut wie nie zuvor", fügt Pfarrer Andrew Keel hinzu. Im Wahlkampf werde darüber viel zu wenig geredet. Auch deshalb fürchtet er, dass sich die Situation noch weiter verschlechtern wird. Keel erwartet weitere Kürzungen nach der Wahl.

Die derzeitige Regierung hat die meisten Sozialleistung im vergangenen Jahr bis 2019 eingefroren. Doch die Lebenshaltungskosten steigen gerade durch den schwachen Pfund-Kurs seit dem Brexit-Referendum weiter. Gerade für die ärmsten Familien könnte das reale Einbußen von etwa fünf Prozent bedeuten, warnt das Institut für Finanzstudien. "Es ist schwer, sich auch nur vorzustellen, wo wir sein werden, wenn die Einsparungen durch sind", sagt Keel.