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GesellschaftDeutschland

Armut in Deutschland: Tafeln am Limit

16. Juli 2023

Lebensmitteln-Tafeln in der Not: immer weiter steigende Preise, immer mehr Kriegsflüchtlinge und immer weniger Spenden. Kann der Staat helfen?

Anstehen für das Nötigste – Warteschlange vor einer Tafel in München
Anstehen für das Nötigste - Warteschlange vor einer Tafel in MünchenBild: Frank Hoermann/SVEN SIMON/picture alliance

Die mehr als 970 Tafeln in Deutschland helfen denen, die wenig haben. Wer nachweisen kann, dass er bedürftig ist, kann sich bei der Hilfsorganisation mit Lebensmitteln eindecken. Doch immer weniger Unternehmen spenden den Tafeln. Gleichzeitig steigt die Nachfrage nach Lebensmittelhilfen; vor allem wegen der hohen Inflation und der vielen Ukraine-Flüchtlinge. Die Tafeln fordern deshalb Hilfe vom Staat.

Erst Supermarkt, dann Baustelle des Fanhauses des 1.FC Union, seit Juni 2020 Tafel-Ausgabestelle von "Laib und Seele" im Berliner Stadtteil KöpenickBild: Volker Witting/DW

Dass sich viele arme Menschen immer teurer werdende Lebensmittel nicht mehr leisten können, kann man etwa im Berliner Stadtteil Köpenick erleben. Vor dem Fanhaus des Berliner Bundesliga-Fußballvereins 1. FC-Union, das zur Lebensmittel-Ausgabestelle umfunktioniert wurde, hat sich eine Schlange von Wartenden gebildet. Und das trotz 30 Grad Celsius in der Sonne und fehlendem Schatten. 

Denise Lauer ist heute zum ersten Mal gekommen; nach langem Zögern und mit Scham im Gepäck. "Ich wollte es mal ausprobieren, hab‘ mich früher nicht getraut", sagt sie schüchtern. "Für mich ist es wegen der hohen Lebensmittelpreise immer schwieriger geworden, mit meinem Sohn über die Runden zu kommen", erklärt die Alleinerziehende. Heute hat sie allen Mut zusammengenommen und freut sich nun auf einen Korb mit Lebensmitteln zum Einheitspreis von 1,50 Euro, den jeder zahlen muss.

Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes sind die Preise für Lebensmittel im Vergleich zum Vorjahr um fast 15 Prozent angestiegen; die Inflation hat um 7,3 Prozent zugelegt.

Carol Seele ist Chef von "Laib und Seele" in Berlin-KöpenickBild: Volker Witting/DW

Auch deshalb hat die unabhängige Hilfsorganisation immer mehr Zulauf: Das Geld ist bei Vielen knapp. Jede fünfte Tafel hat seit Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine zudem mehr als doppelt so viele Kunden wie zuvor, berichtete der Bundesverband Tafel kürzlich. Ähnliches berichtet der DW der ehrenamtliche Leiter der Ausgabestelle in Köpenick, Carol Seele: "Vor dem Krieg kamen maximal 340 Personen zur Ausgabe immer am Dienstag, heute sind es oft weit über 500." "Am vergangenen Freitag waren es genau 564 Menschen, die wir versorgt haben", assistiert Rita Hirsch. Sie führt für die kirchlich geleitete Ausgabestelle genau Buch und hat den meisten Kunden schon zuvor ein Zeitfenster für den Besuch in der kühlen Halle zugewiesen.

Seit dem Krieg gegen die Ukraine hat sich für die Tafeln alles geändert

"Durch den Krieg haben wir mehr immer mehr Kunden", ergänzt Carol Seele. "Wir haben zum Glück noch keinen Aufnahmestopp verhängen müssen." Wer die nötigen Unterlagen nachweisen könne, die Bedürftigkeit belegten, dürfe Hilfe in Anspruch nehmen. Viele Tafeln haben jedoch schon die Abgabemengen pro Person reduziert; manche nehmen auch keine neuen Bedürftigen mehr auf.

Ehrenamtliche Helferinnen bereiten in der 1.FC Union-Fan-Halle angelieferte Lebensmittel für die Verteilung vorBild: Volker Witting/DW

Tetiana Kudina ist vor dem Krieg aus der Ukraine geflohen. Ein Sohn und der Ehemann leben weiterhin in der ukrainischen Hauptstadt Kiew. Die Ukrainerin kommt jeden Dienstag mit ihrem kleineren Sohn zur Tafel. "So kann ich eine Menge Geld sparen", sagt sie. Außerdem treffe sie Deutsche und Ukrainerinnen, mit denen sie sich austauschen könne: "Ablenkung hilft."

Vor 30 Jahren gründete Sabine Werth die erste Tafel in DeutschlandBild: Berliner Tafel e.V.

Engagierte Frauen haben die erste Tafel 1993 in Berlin gegründet. Heute unterstützen die Tafeln - nach eigenen Angaben - rund zwei Millionen Menschen. Die lokalen Vereine finanzieren sich über Geld- und Lebensmittelspenden. Große Lebensmittelkonzerne wie REWE, Lidl oder Aldi unterstützen sie; spenden überschüssige Lebensmittel oder solche mit kleinen Schönheitsfehlern, die sonst auf dem Müll gelandet wären.

Die Tafeln - für arme Menschen im reichen Deutschland

Die Tafeln wollen bedürftigen Menschen helfen. Als arm gilt, wer weniger als 60 Prozent eines mittleren Nettoeinkommens zur Verfügung hat. In Deutschland gelten rund 13 Millionen Menschen als arm.

Bei den Themen Armut und Lebensmittelverschwendung müsse sich auch politisch etwas tun, sagt der neue Tafel-Vorstand, Andreas SteppuhnBild: Tafel/Navina Neuschl

Doch die Lebensmittelspenden seien seit geraumer Zeit rückläufig, beklagt der Bundesverband der Tafeln auf Anfrage der DW. Dafür gebe es, so Andreas Steppuhn, der gerade neu gewählte Vorsitzende des Tafel-Bundes-Verbandes, mehrere Gründe: "Ein Punkt ist, dass Supermärkte mittlerweile oft wirtschaftlicher kalkulieren, damit sie am Ende des Tages nicht so viele Lebensmittel übrighaben. Das begrüßen wir grundsätzlich, weil wir es immer gut finden, wenn Lebensmittelverschwendung minimiert wird. Allerdings benötigen die Tafeln aktuell mehr Lebensmittelspenden, damit die höhere Anzahl an Kundinnen und Kunden unterstützt werden kann." Hinzu komme, dass es bei den Konzernen und Kunden ein gestiegenes Bewusstsein dafür gebe, dass Lebensmittel nicht verschwendet werden sollten.

Rita Hirsch führt im Union-Fanhaus ganz genau BuchBild: Volker Witting/DW

Der neue Tafel-Vorsitzende Steppuhn sieht die staatlich unabhängigen Tafeln im Ausnahmezustand: "Die Politik muss ihren Aufgaben nachkommen. Die Tafeln können nicht auffangen, was der Staat nicht schafft." Steppuhn hat in dieser Krisensituation eine konkrete Forderung, ohne die Unabhängigkeit der Tafeln aufzugeben zu wollen: "Zum Beispiel benötigt es eine Grundfinanzierung, damit die Tafeln abgesichert ihre Arbeit und Unterstützung leisten können." Bislang ist jedoch nicht erkennbar, dass diese Idee von staatlicher Seite unterstützt wird.

Denise Lauer, die junge Frau, die an diesem Tag zur Neukundin geworden ist, hat vor allem eines überrascht: "Dass Menschen das ehrenamtlich machen, finde ich toll." Sie wird wiederkommen, weil das Angebot der Tafeln mit ihren 60.000 ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern eine große Hilfe in schwierigen Zeiten ist.

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