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"Kinderarmut ist ein Entwicklungsrisiko"

14. Oktober 2022

Strom, Heizung, Lebensmittel, alles wird teurer. Schon jetzt sind Kinder in armen Familien benachteiligt. Armutsforscherin Irina Volf kennt Lösungen.

Blick auf zwei erwachsene Hände, die ein Portemonnaie mit wenigen kleinen Geldnoten öffnen, leicht verschwommen ist daneben ein Kind zu erkennen
In Deutschland hängt der Bildungserfolg von Kindern immer noch stark vom Geldbeutel der Eltern abBild: Ute Grabowsky/photothek/picture alliance

Deutsche Welle: Gibt es im reichen Deutschland arme Kinder?

Irina Volf: Jedes fünfte Kind wächst in einer Familie auf, die armutsgefährdet oder von Armut betroffen ist. Wir sprechen in einem reichen Land wie Deutschland nicht über absolute Armut, wo Kinder auf der Straße leben oder arbeiten müssen, um zu überleben, sondern relative Armut: Die Familien haben weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens oder sind auf staatliche Unterstützung angewiesen.

Wer ist besonders betroffen?

Das Armutsrisiko ist besonders hoch bei Alleinerziehenden und großen Familien ab dem dritten Kind. Auch Kinder mit Migrationshintergrund sind häufiger von Armut betroffen. Familien, die nach Deutschland zugewandert sind, haben schlechtere Chancen auf dem Arbeitsmarkt als Menschen, die hier eine Ausbildung oder ein Studium absolviert haben.

Wie wirkt es sich für Kita-Kinder aus, wenn sie aus armen Familien kommen?

Sie haben häufig Sprachdefizite, können sich schlechter ausdrücken und ihre Emotionen schlechter beschreiben. Einige zeigen auffälliges Verhalten, sie sind entweder sehr still oder sehr unruhig und benötigen viel Aufmerksamkeit der Erziehungskräfte.

Man kann es auch an der Kleidung erkennen oder an zu engen Schuhen. Kinder wachsen schnell. Einigen fehlen Wechselkleidung oder wetterfeste Sachen, um in den Wald zu gehen. Oder Kinder erzählen nichts von gemeinsamen Aktivitäten in ihren Familien.

Armutsforscherin Irina Volf vom Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik hat das Modellprojekt "Zukunft früh fördern" in der Kinderkommission des Bundestags vorgestelltBild: Privat

Bei einer anonymen Befragung in unserem Gelsenkirchener Modellprojekt "Zukunft früh sichern" wünscht sich mehr als jede fünfte arme Familie Schuhe und Kleidung für das Kind. Jede vierte arme Familie wünscht sich Spielzeug, Bastel- und Schreibmaterial, sechsmal mehr als bei anderen Eltern.

Besonders alarmierend sind die Defizite in Bezug auf die soziale und kulturelle Teilhabe. Fast zwei Drittel der armen Eltern wünschen sich für ihre Kinder den Eintritt für Freizeitangebote und den Besuch von Sportvereinen oder Musikschulen.

Was bedeutet Kinderarmut für das weitere Leben?

Etwa jeder vierten armen Familie gelingt es, ihren Kindern ein so gutes Leben zu ermöglichen, dass wir statistisch keine Benachteiligungen feststellen. Die Eltern sparen an eigenen Bedürfnissen, ermöglichen den Kindern die Teilnahme an Sportangeboten, Theater oder Kino. Sie gehen in die Bibliothek, lesen zu Hause vor.

Nicht alle sind gut auf die Schule vorbereitet: Armut ist ein Risiko für die Bildung von KindernBild: Andrea Grunau/DW

Die Mehrheit der Kinder aber, die in Armut aufwachsen, leben mit vielen Einschränkungen. Kinderarmut hinterlässt deutliche Spuren bis ins Erwachsenenalter, am meisten bei Bildung und Gesundheit.

Wer in Armut aufwächst, wird häufiger krank und ist schlechter gebildet?

Absolut. Kinder, die im Vorschulalter große Entwicklungsdefizite haben, brauchen mehr Unterstützung, aber auch innere Kraft, um eine lückenlose Bildungsbiografie zu verfolgen. Menschen, die in der Kindheit oder Jugend von Armut betroffen waren, erreichen im Durchschnitt schlechtere Bildungsabschlüsse und haben schlechtere Chancen auf dem Arbeitsmarkt.

Gesundheitliche Probleme kumulieren über die Jahre. Häufig münden sie in psychische Erkrankungen. Das ist in repräsentativen Studien belegt. Armut macht krank, und Kinderarmut ist ein großes Entwicklungsrisiko auf dem Bildungsweg.

In Gelsenkirchen werden Kinder im Modellprojekt "Zukunft früh sichern" (ZUSi) gefördert. Worum geht es?

Mit dem Projekt ZUSi konnten wir zeigen, dass Kinder, die in armen Familien aufwachsen, einen hohen Bedarf an institutioneller Förderung haben - wie in einer Kita (Kindertagesstätte). Aus der Forschung wissen wir aber, dass diese Kinder oft erst später in die Kita kommen. Sie werden weniger Stunden pro Woche betreut und nehmen seltener an talentfördernden Angeboten teil.

Wir wollten diesem Missstand entgegenwirken, indem die Projektkinder individuell gefördert wurden. Das große Ziel: Chancengerechtigkeit beim Übergang von der Kita in die Grundschule. Alle Kinder sollten - unabhängig von Familieneinkommen - gut gerüstet werden.

Was sind die wichtigsten Ergebnisse?

Individuelle Förderung ist sehr effektiv, besonders wenn Kinder in kleinen Gruppen betreut werden. Kinder mit Migrationshintergrund oder Fluchterfahrung ebenso wie Kinder aus Haushalten mit einem niedrigen Bildungsniveau haben deutlich größere Fortschritte gemacht als andere Kinder.

Kinder aus Familien mit Migrationsgeschichte profitieren besonders stark von einer frühen individuellen FörderungBild: Andrea Grunau/DW

Die Chancengerechtigkeit beim Übergang in die Grundschule wurde verbessert. Früher Zugang zu institutioneller Bildung, längere Betreuungszeiten und Kleingruppen sind gerade für arme Kinder wichtig, weil zu Hause Ressourcen für die Talentförderung fehlen.

Bildungs- und Chancengleichheit braucht neben der Kita auch gute Vernetzung im Sozialraum.

Sie meinen Vereine, Künstler, Bauernhof, Musikschule oder ähnliches?

Genau. Kinder können ihre Talente nur entwickeln, wenn sie Neues ausprobieren können. Vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie haben die Kinder wöchentlich eine andere Kita besucht und gemeinsam getanzt. Wir haben eine finanziell bessergestellte und eine von Armut betroffene Familie dazu befragt.

Beide waren begeistert. Die erste Mutter sagte, auf die Idee wären sie nicht gekommen, weil ihre Tochter eher Kampfsport machen wollte. Die Mutter aus der armen Familie sagte: "Wir hätten gar keine Möglichkeit, sie für ein Sportangebot anzumelden und hinzubringen." Die Mädchen haben gemeinsam Spaß an einer neuen Aktivität entwickelt. So kann man Talente und Zusammenhalt fördern.

Wie stellen Sie fest, ob Kinder vom ZUSi-Projekt profitiert haben?

Wir haben die Entwicklung der Kinder in fünf Bereichen untersucht: Sprache, soziale Kompetenz, kognitive Entwicklung, Fein- und Grobmotorik. Bei Projektbeginn mit Vierjährigen haben wir festgestellt, dass arme Kinder in allen Bereichen deutlich schlechter abgeschnitten haben. Sie konnten im Durchschnitt nur 50 Prozent der Aufgaben lösen, die für dieses Alter relevant sind, die Kinder aus nicht armen Familien 70 Prozent.

Ausgangslage des Modellprojekts: Kinder aus armen Familien konnten nur 50 Prozent der Aufgaben lösen, die für ihr Alter relevant sind

Im Verlauf des Projekts konnten wir in vier von fünf Bereichen deutliche Fortschritte erreichen. Nur bei der Sprache war die Entwicklung rückläufig. Corona-bedingte Kita-Schließungen hatten einen negativen Einfluss auf Kinder, die mehrsprachig aufwachsen. Sie brauchen gezielte Förderung.

Wie nachhaltig ist die Förderung?

Je früher man anfängt, desto größer die Chancen, dass Kinder später von Armut befreit leben können. Eine gute soziale Infrastruktur ist wichtig: Kita-Plätze, Unterstützungs- und Beratungsangebote für Familien, niedrigschwellige kostenfreie Freizeitangebote für Kinder und Jugendliche.

Kinderarmut ist kein Versagen der Eltern. Armut entsteht infolge komplexer politischer Entscheidungen. Deswegen müssen Lösungen von der Politik kommen: durch armutsfeste Familien-, Steuer-, Arbeitsmarkt- und Bildungspolitik, damit Eltern über ein Einkommen verfügen, das Kindern ein Aufwachsen im Wohlergehen ermöglicht.

Präventive Bildungsangebote wie "Zukunft früh sichern" können nicht die Bekämpfung von Armutsursachen ersetzen, sondern nur versuchen, Armutsfolgen zu reduzieren.

Wie kann man Kinder dauerhaft fördern?

Es darf nicht sein, dass in Deutschland das Armutsrisiko mit dem dritten Kind enorm steigt. Aufgrund des demografischen Wandels brauchen wir mehr Kinder. Wenn Eltern trotz Erwerbstätigkeit ihren Kindern kein gutes Leben ermöglichen können, ist das ein politisches Problem.

Wenn Familien beengt leben und Kinder nur auf der Straße spielen können, werden sie sich nicht so gut entwickeln wie in einer Familie mit Garten und einem guten Sport- und Spielangebot. Deswegen ist es wichtig für ärmere Kinder, dass sie möglichst früh einen Kita-Platz bekommen und mehrere Stunden am Tag von gut ausgebildeten Fachkräften individuell gefördert werden.

Bildungspolitik ist sehr wichtig, besonders die gezielte Sprachförderung der Kinder.

Eine faire Chance für Kinder

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Das ZUSi-Projekt wurde von der RAG-Stiftung finanziert. Kann sich Deutschland die Förderung der Kinder nicht leisten?

Es ist eine Frage der Prioritäten. Deutschland gibt sehr wenig Geld pro Kind aus, um die Bildung der Kinder auf den besten Weg zu bringen. Dass die RAG-Stiftung den ZUSi-Kindern viel ermöglicht hat, ist erfreulich. Aber diese Chancen sollten alle Kinder in Deutschland haben.

Armutsbekämpfung kostet Geld. Es ist eine Schande, dass Deutschland so viele Talente vernachlässigt. Jedes Kind hat ein Recht auf Bildung.

Jedes Kind hat Talente und sollte in der Lage sein, diese auch zu entwickeln. Deutschland als reiches Land sollte größtes Interesse haben, den Kindern in unserem Land ein Leben in Wohlergehen zu ermöglichen, damit aus ihnen Bürgerinnen und Bürger mit vielen Fähigkeiten und Kompetenzen werden.

Dr. Irina Volf leitet den Bereich Armut am Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik e.V. in Frankfurt/Main. Sie ist Politologin und Psychologin.

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