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PolitikAsien

Armutsbekämpfung mit Nebenwirkungen in Tibet

Hans Spross
25. September 2020

Tibet ist derzeit Schauplatz einer mit großem Druck verfolgten Kampagne zur Ausbildung und Umsiedlung "überschüssiger Arbeitskräfte". Umerziehungslager wie in Xinjiang gehören - bislang - nicht dazu.

Tibet | Nomade
Ein tibetischer Nomade mit Pferd und Fohlen in der Region zwischen Gyantse und DangxiongBild: Manfred Bail/imageBROKER/picture-alliance

Die Uhr tickt für Xi Jinpings Projekt der Ausmerzung absoluter Armut in China bis Ende 2020. Die Einkommensgrenze, die dafür überschritten werden muss, ist regional unterschiedlich und beträgt aktuell durchschnittlich rund 4000 Yuan (umgerechnet 500 Euro) pro Jahr. Laut der Zeitschrift "The Economist" müssen noch rund fünf Millionen Staatsbürger diese Schwelle überschreiten, damit die lokalen Parteikader und die nationale Parteiführung den Sieg auf dem "Schlachtfeld der Armutsbekämpfung", so eine offizielle Formulierung, verkünden können.

Am intensivsten wird dieser Kampf derzeit in Tibet geführt, wie vor kurzem der Forscher Adrian Zenz in einem Artikel der "Jamestown Foundation" mit Sitz in Washington DC dokumentiert hat. Zenz hatte zuvor das System der Umerziehungslager in Xinjiang publik gemacht. In Tibet wird demnach seit 2019 das umfangreichste und aufwendigste staatliche Programm für die Berufsausbildung und den Transfer "überschüssiger ländlicher Arbeitskräfte" umgesetzt, das es dort je gegeben hat. 

Xi Jinping sieht sich als Wohltäter "rückständiger" Minderheiten, die in moderne Wohnungen ziehen sollenBild: Andy Wong/AP Photo/picture-alliance

Neue Stufe der Umsiedlungspolitik

Die Ausbildung soll nach "strikt militärischem Muster" organisiert werden, übersetzt heißt das: kombiniert mit ideologischer Erziehung. Damit würden die "schlechte Arbeitsdisziplin (der Tibeter)" und ihr "rückständiges Denken" verbessert. In diesem Jahr seien bereits über eine halbe Million Tibeter im Zuge dieses Programms ausgebildet, knapp 50.000 auf Arbeitsstellen innerhalb der Autonomen Region sowie einige tausend weitere in andere Landesteile Chinas zu ihren neuen Arbeitsstellen verschickt worden.

"Der Druck auf die Lokalregierungen, die armen Teile der Bevölkerung zusammenzutreiben und in das Armutsbekämpfungsprogramm einzugliedern, ist extrem hoch", schreibt Adrian Zenz. Es gibt Belohnungen und Bestrafungen für Kader auf allen Ebenen bei Erfüllung bzw. Nicht-Erfüllung der Quoten für den Arbeitskräfte-Transfer.

"In dieser drastischen Art war uns das bislang nicht bekannt", sagt Wangpo Thetong, Mitglied des tibetischen Exilparlaments, gegenüber der DW. "Uns war das Bemühen der chinesischen Partei und Regierung immer bekannt, Tibeter in Tibet umzusiedeln, vor allem Nomaden in eine städtische Lebensweise zu bringen. Aber dieses Quotensystem und diese Stringenz, das ist neu."

Dharamsala ist Sitz des tibetischen Exilparlaments

Druck und soziale Kontrolle

Die Rekrutierung und Ausbildung der Hirten und Bauern als Arbeitskräfte zum Einsatz etwa beim Straßen- und Bergbau, in Wäschereien, Restaurants und Kantinen, als Fahrer oder in der Nahrungsmittelverarbeitung läuft über eine Mischung aus Druck, Anreizen und Überzeugungsarbeit. Arbeitsteams der einzelnen Dörfer gehen von Tür zu Tür, "um die in den armen Haushalten vorherrschende Denkweisen und Ansichten zu ändern", so zitiert Adrian Zenz aus einschlägigen Partei-Direktiven.

Welche Nachbarschaften, Haushalte und Personen welche Fortschritte beim Kampf gegen die Armut gemacht haben, wird mit Hilfe von "Big Data" erfasst und öffentlich gemacht - die gesellschaftliche Druckausübung liegt auf der Hand. Hinzu kommt das auch in Xinjiang etablierte System aus je zehn Haushalten, die aufeinander "achtgeben" sollen: einmal in punkto Sicherheit, einmal in punkto Armutsbekämpfung. Daher der offizielle Name "Haushaltsmanagementsystem mit doppelter Bindung."

Tibetischer Nomade auf eisiger Hochebene - überschüssige Arbeitskraft? Bild: Olaf Schubert//imageBROKER/picture-alliance

Bildung statt Nomadenleben

In den von Zenz ausgewerteten Dokumenten ist ein wiederkehrendes Motiv die angebliche schlechte Arbeitsmoral der Tibeter: Der Staat müsse "aufhören, faule Leute zu unterstützen", lautet eine Parole. Eine deutsche Entwicklungshelferin, die über mehrere Jahre Projekte in Ost-Tibet aufgebaut und begleitet hat, erzählt davon, wie sie die Einstellung der nomadischen Tibeter im modernen chinesischen Kontext erlebt hat: "Es ist schon so, dass viele Menschen in Tibet gesagt haben, sie wollen, dass sich was verändert, dass ihre Kinder andere Möglichkeiten zum Arbeiten haben. Sie wollen nicht, dass ihre Kinder weiter Nomaden bleiben, weil sie das Gefühl haben, dass sie aus der Gesellschaft ausgeschlossen sind, nicht mitbestimmen können und ihnen vieles verwehrt bleibt, auch, dass das Leben so hart ist. Die Kinder wiederum haben gesagt, sie wollen unbedingt Nomaden bleiben (lacht), aber die meisten tun es dann nicht. Wenn sie einmal ihre Schulausbildung haben, gehen nur die wenigsten wieder auf den traditionellen Weg zurück. Aber die Leute, die dann zur Schule gehen und eine Ausbildung machen, die wollen natürlich auch arbeiten und gehen danach auch arbeiten. Dass dann jemand sagt: 'Jetzt habe ich keine Lust und liegt den ganzen Tag faul herum', das hab ich nicht kennengelernt."

Chen Quanguo, ehemals Parteichef in Tibet und jetzt in Xinjiang, hat das System der Kontrolle der Minderheiten perfektioniertBild: picture-alliance/AP Photo/Ng Han Guan

Freiwillig oder gezwungen? 

Von einer selbstbestimmten Ausbildungs- und Berufswahl kann allerdings bei der aktuellen Kampagne in Tibet kaum die Rede sein: "Einige der offiziellen Direktiven betonen zwar, dass die Kampagne auf freiwilliger Beteiligung basiert, aber es gibt viele Anzeichen für die systemische Präsenz von Zwangselementen in dem ganzen Prozess", schreibt Adrian Zenz. Sein Fazit: "In einem System, wo der Übergang zwischen Sicherheitsmaßnahmen und Armutsbekämpfung fließend ist, ist kaum zu sagen, wo Zwang aufhört und wo freiwillige Initiativen auf lokaler Ebene beginnen." Allein schon die für den Arbeitskräftetransfer benutzte Terminologie macht die strikte staatliche Kontrolle deutlich: Alles läuft "vereinheitlicht" ab, von der Zuordnung der Ausgebildeten zum Arbeitgeber bis zur Abfahrt zur Arbeitsstelle.

Dieselbe Terminologie werde auch bei Programmen zur Armutsbekämpfung in Xinjiang benutzt, schreibt Zenz. Im Unterschied zu Xinjiang gebe es aber in Tibet bislang keine Hinweise auf außergerichtliche Internierungen, wohl aber Fälle von Ausbildungszentren, wo die Teilnehmer Militäruniformen tragen, mutmaßlich zur Förderung der Disziplin. Ein Ausbildungszentrum in Chamdo in Ost-Tibet erhielt ausweislich von Satellitenbildern im Zuge einer Erweiterung Vorrichtungen zur Abschirmung durch Zäune inner- und außerhalb des Geländes.

Adrian Zenz: Chinas Vorgehen in Tibet und Xinjiang hat viele ÄhnlichkeitenBild: picture-alliance/dpa/Keystone/M. Trezzini

Zugriff auf Bodenschätze - und Köpfe

Teil der Kampagne ist es laut Zenz' Recherchen, Bauern und Nomaden zur Übertragung ihres Landes und ihrer Herden an staatliche Kooperativen zu bewegen, an denen sie dann Anteile erwerben können oder wo sie sich dann als Lohnarbeiter verdingen können. Der Exilparlament-Abgeordnete Wangpo Thetong sieht weitergehende Absichten hinter solchen Maßnahmen: "Seit fünf, sechs Jahren lastet ein erhöhter Druck auf den Menschen in den Nomadengebieten. Man möchte an ihre Gebiete, man möchte ihre Landrechte, schiebt Armutsbekämpfung und neue Weideregelungen vor. Gebiete mit wertvollen Bodenschätzen sollen ausgebeutet werden. Insofern habe ich die große Befürchtung, dass auch die jüngsten Maßnahmen diesem Ziel dienen."

Und schließlich komme die großangelegte Aktion zum Arbeitskräftetransfer einem anderen langgehegten Wunsch der Pekinger Führung entgegen, sagt Thetong: "Über Jahrzehnte hat Peking versucht, die Loyalität der Tibeter gegenüber dem Dalai Lama zu untergraben. Aber auch durch noch so viele Reformprogramme, Kampagnen für Patriotismus und so weiter ist es ihnen nicht gelungen. Jetzt sollen diese neuen Programme der Umsiedlung und Homogenisierung diesem Ziel dienen, die Bindung an den Dalai Lama zu untergraben."

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