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Asbest: Die tickende Zeitbombe im türkischen Erdbebengebiet

Serdar Vardar in Hatay | Pelin Ünker in Hatay
26. September 2023

Trotz offizieller Dementis könnte das Erdbeben in der Türkei eine weitere tödliche Gesundheitsgefahr ausgelöst haben. Eine DW-Recherche ergab: Der Schutt enthält giftiges Asbest.

Die Stadt Hatay mit riesiger Staubwolke. Bagger räumen im Vordergrund den Schutt der zerstörten Häuser
Staubwolken durchziehen die Stadt Hatay. Vielerorts ist darin das krebsfördernde Asbest Bild: Serdar Vardar/DW

Zehntausende Menschen verloren am 6. Februar beim Erdbeben in der südtürkischen Provinz Hatay ihr Leben. Bagger reißen weiterhin zerstörte Gebäude ein, bewegen Berge von übrig gebliebenem Schutt und wirbeln große Staubwolken auf.

Einige Kinder laufen durch die Trümmer, um einen Platz zum Fußballspielen zu finden. Möglicherweise atmen auch sie dabei Asbest ein. Das giftige Baumaterial hat inzwischen Pflanzen, Böden und Schutt in der wichtigen Agrarregion kontaminiert, was auf eine ernstzunehmende Gesundheitskrise hindeutet.

Ein Expertenteam der türkischen Kammer für Umweltingenieure sammelte in Hatay Staubproben und ließ sie im Auftrag der DW analysieren. Die Untersuchung ergab, dass in der Region Asbest vorhanden ist, obwohl offizielle Statements das Gegenteil behaupten.

Gesundheitsexperten sagten der DW, dass die Menschen, die in der Erdbebenregion leben, darunter Tausende von Kindern, einem ernsthaften Risiko für asbestbedingte Lungen- und Kehlkopfkrebserkrankungen ausgesetzt seien. Eine weitere Gefahr besteht im Mesotheliom, einem besonders tödlichen und aggressiven Krebs.

"In den kommenden Jahren könnten wir mit dem Tod von Zehntausenden sehr jungen Menschen aufgrund von Mesotheliomfällen rechnen", sagt Özkan Kaan Karadag, Arzt und Experte für öffentliche und arbeitsmedizinische Gesundheit, nachdem er die ersten Laborergebnisse der DW-Untersuchung gesehen hatte.

Die Beseitigung von Erdbebenschutt birgt gesundheitliche Risiken für die Bevölkerung

Asbest, früher als Wundermaterial mit vielfältigen Einsatzmöglichkeiten gefeiert, wurde von der Weltgesundheitsorganisation als "eindeutig krebserregend" eingestuft. Seit 1993 ist es in Deutschland weitgehend verboten, in der Türkei seit 2010.

Doch viele Gebäude sind älter und haben noch immer asbesthaltige Baumaterialien. Asbest wurde oft in Dächern, Seitenwänden und Isolierungen eingesetzt. Wenn dieses Material zerbricht, dann kann das Asbest auf mikroskopische Größen zerfallen, in die Luft gelangen und sich ausbreiten.

Das Erdbeben vom 6. Februar zerstörte 100.000 Gebäude in elf Städten, darunter Hatay. Mehr als 200.000 Gebäude wurden zudem schwer beschädigt. Die UN schätzt, dass die Beben zwischen 116 und 210 Millionen Tonnen Trümmer hinterließen. Das sind genug Trümmer, um eine Fläche zu bedecken, die fast doppelt so groß ist wie Manhattan.

Noch immer reißen Arbeiter beschädigte Gebäude ab und beseitigen Trümmer, oft ohne Masken oder Schutzausrüstung. Häufig verwenden sie keine Schutzmaßnahmen gegen die Ausbreitung von Staub, wie etwa das Versprühen von Wasser.

Organisationen wie der Verband der Kammern türkischer Ingenieure und Architekten sagen, dass ihre Warnungen vor den Gefahren für die öffentliche Gesundheit, die durch willkürliche Abrissarbeiten, Schuttbeseitigung und Müllentsorgungspraktiken nach dem Erdbeben entstehen, ignoriert werden.

Als Reaktion auf diese Warnungen schrieb Mehmet Emin Birpinar, der damalige stellvertretende Minister für Umwelt, Urbanisierung und Klimawandel, im Juni in den sozialen Medien, dass sich kein Asbest in der Luft befände.

"Unsere Bürger im Erdbebengebiet können beruhigt sein; wir gehen sehr sorgfältig gegen Asbest vor", sagte er.

DW-Analyse: Diese Staubprobe aus den Blättern eines Olivenbaums enthält Chrysotil- und Anthophyllit-AsbestBild: ÇMO

DW-Analysen finden Asbest in der Erdbebenregion

Die Ergebnisse der DW-Analyse mit 45 Proben aus sechs verschiedenen Stadtteilen in Hatay scheinen im Widerspruch zu offiziellen Aussagen zu stehen.

Sechzehn zufällig entnommene Proben enthielten Asbest, darunter Staub von Zeltdächern der Notunterkünfte von obdachlos gewordenen Bewohnern sowie von Blättern, Früchten, Erde und Schutt.

In Gaziantep, 200 Kilometer von Hatay entfernt, entnahm die DW eine letzte Staubprobe vom Dach ihres Mietwagens. Die Probe war positiv – enthielt also Asbest. Das Team hatte eine negative Kontrollprobe entnommen, bevor es Gaziantep nach Hatay verließ, nachdem es das Auto zwei Tage zuvor gewaschen hatte.

Experten erklärten gegenüber der DW, dass dies zeige, wie das Fasermaterial an Fahrzeugen haften und weite Strecken zurücklegen könne.

Türkei: Asbest gefährdet die Gesundheit der Erdbebenopfer

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Es kann Jahrzehnte dauern, bis Krebserkrankungen im Zusammenhang mit Asbestexposition auftreten. Allerdings schadet der dichte Staub in der Region bereits jetzt der Gesundheit. Kinder sind Experten zufolge erheblich gefährdet.

Die fünfzehnjährige Limar Yunusoglu und ihre Familie flohen aus Syrien in die Türkei, um dem Krieg zu entkommen. Nach dem Erdbeben zogen sie in Zelte in der Nähe einer Mülldeponie. Ihr Bruder ist jetzt krank.

"Mein Bruder wurde durch den Staub krank. Wir bringen ihn ins Krankenhaus und sie geben ihm Sauerstoff. Aber dann kommen wir hierher zurück, wo ihm der Staub weh tut. Manchmal schläft er die ganze Woche", sagte Yunusoglu.

An der Küste erzählte ein Handwerker der DW, dass auch er und seine Familie vom Staub krank würden. In den Ruinen neben seinem Laden liegt jede Menge Abfall, von Elektrogeräten bis hin zu Isoliermaterialien, von denen bekannt ist, dass sie Asbest enthalten.

"Wir alle haben unsere Nase und unseren Mund voller Staub. Unsere Häuser, unsere Zelte, die Hausfronten, unsere Autos sind alle voller Staub. Deshalb sind unsere Kinder und wir, unsere Mütter und Väter alle krank", sagte er, während er rote Flecken auf seinen Armen und seinem Bauch zeigt.

Der Experte für öffentliche Gesundheit, Karadag, sagte, es sei ohne objektive Gesundheitsüberwachungsstudien schwierig zu bestimmen, wie viele Menschen in der Region betroffen seien.

"Offizielle Aussagen, die behaupten, dass Menschen nicht betroffen seien, dienen nur dazu, das Problem zu vertuschen", sagte er.

Tausende Kinder im Erdbebengebiet sind dem Risiko ausgesetzt, vor dem 30. Lebensjahr an Lungenkrebs zu erkranken, sagen Gesundheitsexperten Bild: Pelin Ünker/DW

Zivilgesellschaft arbeitet an der Lösung des Asbestproblems

Im April reichten die Anwaltskammer von Hatay sowie Umwelt- und Gesundheitsorganisationen eine Klage ein. Sie wollen die Abrissarbeiten in der Stadt stoppen, doch der Fall ist nach fünf Monaten immer noch nicht entschieden.

Ecevit Alkan ist einer der Anwälte und wendet sich gegen die schlechten Praktiken der Abfallentsorgung. Auch er wurde durch den Staub krank.

Alkan half bei der Kartierung aller in der Stadt genutzten Schuttdeponien, da die Behörden die Informationen nicht veröffentlicht hätten, sagte er. Er zeigt der DW einen Standort in der Nähe einer Schule, einer Containerstadt für Erdbebenopfer und eines Bewässerungskanals für die Landwirtschaft.

Hatay ist eine fruchtbare Region und landwirtschaftliche Produkte wie Petersilie und Mangold werden von hier aus in das ganze Land transportiert. "Es ist also sehr riskant, diesen Ort als Schuttdeponie für Mensch und Umwelt zu nutzen", sagte Alkan.

Utku Firat, ein Umweltingenieur, der bei der Sammlung von Staubproben für DW half, betont, dass die Gefahr hätte minimiert werden können, wenn Asbestmaterialien vor dem Abriss von Gebäuden entfernt worden wären.

"Sie haben es nicht nur versäumt, sondern sie decken die Lastwagen, die den Schutt transportieren, auch noch nicht einmal mit Planen ab. Selbst das hätte sehr geholfen", sagte Firat über die Behörden und Abbruchunternehmen.

Auch wenn der bisher entstandene Schaden nicht rückgängig gemacht werden kann, würden einige Sicherheitsmaßnahmen zumindest einige der Gefahren verringern.

"Masken sollten an die Menschen und die Arbeiter in der Region verteilt werden und sie sollten ermutigt werden, diese zu verwenden", sagte Firat. "Wohneinheiten in Gebieten, die am stärksten von Staub betroffen sind, sollten identifiziert und an einen anderen Ort verlegt werden."

Die wichtigste Lösung besteht jedoch darin, das Problem einzugestehen und das tödliche Material sicher zu entsorgen.

Der Artikel wurde adaptiert aus dem Englischen von Gero Rueter.

 

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