Der türkische Einmarsch in Nordsyrien fördert neue Allianzen. Die syrische Regierung von Präsident Baschar al-Assad will die kurdischen Milizen im Land als Waffenbrüder im Kampf gegen die "Aggression" gewinnen.
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"Wir stehen in Syrien einem gemeinsamen Feind gegenüber", heißt es im Aufruf des syrischen Verteidigungsministeriums. Kurden und Araber müssten sich angesichts der "türkischen Aggression" vereinen, um "jeden Zentimeter der geliebten syrischen Gebiete wiederherzustellen". Die Türkei war am 9. Oktober in Nordsyrien einmarschiert, um die Kurdenmiliz YPG zu vertreiben, die sie als Terrororganisation betrachtet.
Seit zwei Tagen kommt es zu Zusammenstößen zwischen der türkischen und der syrischen Armee. Staatliche Medien in Syrien berichten von schweren Kämpfen nahe der Stadt Ras al Ain unmittelbar an der türkischen Grenze. Aus der Türkei werden die Gefechte bislang nicht bestätigt. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan will in einem 30 Kilometer tiefen und über 400 Kilometer langen Streifen direkt an der Grenze auf syrischem Gebiet eine "Sicherheitszone" einrichten - mit russischer Billigung. Das mit Russland verbündete Syrien sieht darin jedoch eine "Besetzung".
Alte Gesichter, neue Allianzen: Wer gewinnt den Kampf um Syrien?
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Assad hat keinen Zugriff auf die Kurdenregionen
Mit ihrem Appell an die von den YPG angeführten Kurdenmilizen der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) versucht die Regierung in Damaskus demnach, in der Region wieder Fuß zu fassen. Assad hatte seine Truppen im Jahr 2012, in der Frühphase des syrischen Bürgerkriegs, aus den Kurdengebieten zurückgezogen, um andernorts im Land gegen Rebellen zu kämpfen. Seitdem verwalten die Kurden die Region weitgehend selbst, Assad hat dort faktisch keine Macht mehr.
Im Zuge der türkischen Angriffe hatten die Kurden dann aber Damaskus und Moskau um Unterstützung gebeten. Das syrische Innenministerium erklärte sich bereit, für die Anwohner der Region "alle für zivile Angelegenheiten benötigten Dienste" bereitzustellen. Worum es sich bei diesen Diensten genau handelt, ist unklar. Viele Kurden in Syrien sind staatenlos. Assads Vater und Amtsvorgänger Hafis hatte Zehntausenden Kurden im Nachgang einer Volkszählung 1962 die Staatsangehörigkeit aberkannt. 2011 dürfte die Zahl der staatenlosen Kurden im Land bei über 300.000 gelegen haben.
rb/se (dpa, rtr)
Die Leidtragenden der Syrien-Offensive
Vor rund drei Wochen marschierten türkische Truppen in Nordsyrien ein. Nun hausen tausende Binnenflüchtlinge in verlassenen Schulen und die Versorgung ist miserabel. Eine Fotoreportage von Karlos Zurutuza aus Tell Tamer.
Bild: DW/K. Zurutuza
Flucht - egal wie
Mehr als 200.000 Menschen in Nordsyrien sind innerhalb des Landes vertrieben worden, so UN-Berichte, seitdem die Türkei am 9. Oktober ihre Offensive in der Region gestartet hat. Am schwersten hat es die Grenzstadt Ras al-Ain getroffen, in die das türkische Heer einmarschiert ist und die zusätzlich aus der Luft angegriffen wurde.
Bild: DW/K. Zurutuza
"Wir haben alles verloren"
Die meisten Flüchtlinge sind Kurden. Die Zivilisten, die in der Stadt geblieben sind, sind zum größten Teil Araber - und die halten weiterhin Kontakt mit ihren bisherigen Nachbarn. "Gestern haben wir telefoniert. Sie erzählen, unser Haus sei von Islamisten geplündert worden", klagt dieser Mann. "Wir haben alles verloren."
Bild: DW/K. Zurutuza
Jeder Krümel hilft
Viele internationale Nichtregierungsorganisationen (NGO) sind ebenfalls aus der Region abgezogen, seit die Regierungstruppen bei Tell Tamer stationiert sind. Die Menschen in den Dörfern brauchen diese Organisationen aber, um ihre Versorgung zu sichern. Sie kämpfen jetzt mit Hilfe lokaler NGOs gegen den täglichen Mangel, so wie diese Frauen, die für Brot anstehen.
Bild: DW/K. Zurutuza
Nicht genug für alle
In Tell Tamer und anderen Orten der Gegend sind hunderte Vertriebene angekommen. Auch sie sind auf die Hilfe von Nichtregierungsorganisationen angewiesen. "Sie lassen sich in verlassenen Dörfern nieder", berichtet Hassan Bashir, Koordinator einer lokalen NGO, der DW. "Viele dieser Dörfer liegen in der Nähe von Orten, die Türkei-treue Milizen oder IS-Schläferzellen kontrollieren."
Bild: DW/K. Zurutuza
Streng rationierte Versorgung
Dieser arabische Binnenflüchtling aus Ras al-Ain hat vier Ehefrauen und kann sich selbst und seine Kinder kaum ernähren. Die örtlichen NGOs haben die Lebensmittellieferungen auf eine Ration pro Familie beschränkt. "Aber meine Kinder können doch nichts dafür!", sagt er, nachdem er eine einzige Türe mit Lebensmitteln bekommen hat. "Sie sind doch nur Kinder!"
Bild: DW/K. Zurutuza
Ende des Unterrichts
Die Schulen in Nordsyrien haben seit Beginn der Offensive flächendeckend geschlossen. In einigen von ihnen wohnen jetzt Binnenflüchtlinge aus Ras al-Ain. Die Menschen, die es sich leisten können, ziehen in Städte wie al-Hasaka weiter, rund 80 Kilometer südlich gelegen. Andere müssen trotz der Angriffe ausharren.
Bild: DW/K. Zurutuza
Provisorische Unterkunft
50 kurdische Familien leben in dieser Schule in Tell Tamer - ohne Elektrizität, ohne fließendes Wasser. Die hygienischen Zustände werden immer schlechter, Ärzte fürchten einen Ausbruch der Cholera und anderer Krankheiten. "Wenn es so weitergeht, stehen wir vor einer riesigen humanitären Krise", so ein hier ansässiger Arzt zur DW.
Bild: DW/K. Zurutuza
Krank und gestrandet
Das Krankenhaus in Tell Tamer schafft es gerade so, die Verwundeten zu versorgen. Anderen kann es nicht helfen, so zum Beispiel Krebskranken. Zwei Betroffene berichten der DW, dass sie eigentlich gerade in Damaskus ihre Chemotherapie beginnen sollten, bevor die Offensive startete. Die derzeitige Situation macht es aber unmöglich, dorthin zu reisen.
Bild: DW/K. Zurutuza
Kein Spielplatz für kleine Kinder
Das christlich geprägte Dorf Tell Nasri in der Nähe von Tell Tamer ist wie leergefegt, seitdem der "Islamische Staat" hier gewütet hat. Die meisten Familien haben ihre Heimat während der IS-Belagerung verlassen. Jetzt siedeln vertriebene kurdische Familien in der Trümmerlandschaft, weil sie keine andere Zuflucht finden können.
Bild: DW/K. Zurutuza
Oft bleibt nur beten
Viele Kirchen in Tell Nasri wurden vom IS gesprengt - so wie diese, in deren Ruinen diese beiden Jungen stehen. Die schwierigen Lebensbedingungen sind noch das kleinste Problem der beiden. Augenzeugen berichten der DW, dass sie aus einem Nachbardorf von mutmaßlichen Islamisten angegriffen wurden.