1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

Assange-Prozess: Testfall für die Pressefreiheit

27. Dezember 2020

Ob WikiLeaks-Gründer Julian Assange an die USA ausgeliefert wird, entscheidet am 4. Januar ein Londoner Gericht - nach einem unfairen Verfahren. Deutsche Politiker fordern seine Entlassung aus Isolationshaft.

Großbritannien London | Gericht Old Bailey | Prozess Julian Assange | Protest
Bild: Reuters/P. Nicholls

Der Druck ist gigantisch: Einzelhaft im Londoner Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh - der UN-Sonderbeauftragte für Folter, Nils Melzer, spricht gegenüber der DW sogar von Isolationshaft; sieben Jahre Botschaftsasyl hinter sich und vor sich die Drohung, den Rest seines Lebens hinter amerikanischen Gefängnismauern zu verbringen - unter Bedingungen, die Melzer als Folter bezeichnet. Seit 10 Jahren wird der Australier Julian Assange von den US-Behörden als Staatsfeind verfolgt. Er hat ihre dunklen Geheimnisse aufgedeckt. Am 4. Januar verkündet Richterin Vanessa Baraitser in London ihre Entscheidung, ob der Enthüllungsjournalist an die USA ausgeliefert wird.

Für die grüne Bundestagsabgeordnete Margit Stumpp ist dieses Verfahren eine "Feuerprobe für die westliche Wertegemeinschaft". Gemeinsam mit Abgeordneten der SPD, der CDU, der Linken und der FDP hat Stumpp am 21. Dezember die interfraktionelle Arbeitsgemeinschaft "Freiheit für Julian Assange " gegründet. Der DW sagte Stumpp, in dem Auslieferungsverfahren sehe sie "die Rechtsstaatlichkeit verletzt". Das beginne schon damit, dass sie als Prozessbeobachterin keinen Zutritt zum Prozess bekommen habe. "Ich war öfter in der Türkei, da hatte ich keine Probleme, in den Gerichtssaal zu gelangen", macht Stumpp einen für England wenig schmeichelhaften Vergleich auf.

Diktatoren freuen sich

Diktatoren haben längst verstanden: Die Glaubwürdigkeit der westlichen Welt als Anwalt der Menschenrechte wird durch die Verfolgung von Julian Assange massiv untergraben. Ein Beispiel? Anfang November konfrontierte die BBC-Korrespondentin Orla Guerin den aserbeidschanischen Präsidenten Ilham Aliyev mit kritischen Fragen zur Pressefreiheit in seinem Land. Der schoss zurück, angesichts der Behandlung von Assange habe England kein Recht, anderen Staaten Vorhaltungen in Sachen Menschenrechte und Pressefreiheit zu machen.

Assange auf einer Prozess-Skizze im September diesen JahresBild: Reuters/Julia Quenzler

Nils Melzer ist nicht nur UN-Sonderbeauftragter für Folter. Er lehrt auch Völkerrecht an der Universität Glasgow und kennt sich aus mit britischem Recht. Sein Urteil zum Umgang mit Julian Assange fällt vernichtend aus. "Das Verfahren verletzt ganz klar die grundlegenden Standards der Menschenrechte, eines ordentlichen Verfahrens und der Rechtsstaatlichkeit." Die Motivation liegt angesichts von Assanges Enthüllungen amerikanischer "Kriegsverbrechen, Korruption und anderer schwerer Verbrechen" für Melzer auf der Hand: "Die USA versuchen hier, investigativen Journalismus zu kriminalisieren. Und das britische System folgt hier leider den Vereinigten Staaten." Am 21. Dezember hat Melzer an US-Präsident Donald Trump appelliert, Assange in seinen letzten Tagen im Weißen Haus zu begnadigen.

Menschenrechtler sind erschüttert

Reporter ohne Grenzen (ROG) hat das Verfahren genau verfolgt. Allerdings unter "erschütternden Umständen", berichtet Christian Mihr der Deutschen Welle. Der Geschäftsführer von ROG in Deutschland war selbst an vielen Verhandlungstagen in London und unterstellt den britischen Behörden den "Versuch, internationale Prozessbeobachter systematisch herauszuhalten". Selbst zunächst garantierte Video-Zugänge seien kurzfristig wieder entzogen worden. Die wenigen Beobachter durften nicht in den Gerichtssaal selbst; sie mussten in einem separaten Saal eine schlechte Video-Übertragung verfolgen, unter extrem ungemütlichen Bedingungen, bei kalten Temperaturen. Der zweifelhafte Erfolg: Am Ende war ROG die einzige NGO, die an jedem Verhandlungstag im Gericht präsent war.

Zu den Aussagen der Zeugen - die meisten waren von der Verteidigung aufgeboten - sagt ROG-Chef Mihr, es sei nicht nur deutlich geworden, dass es "hier um eine Frage der Pressefreiheit geht". Deutlich sei auch geworden, dass es "um eine Frage von Leben und Tod von Julian Assange geht". Psychologen und Psychotherapeuten und selbst ein Psychiater der Anklage hätten von einem sehr problematischen Gesundheitszustand Assanges gesprochen. "Es besteht eine akute Suizidgefahr unter den Bedingungen der Isolationshaft", so Mihr.

Was den Urteilsspruch am 4. Januar angeht, hat Mihr wenig Hoffnung: "Ich habe immer gesagt, das ist ein politisches Verfahren. Das heißt: Es gibt politischen Druck. Und das heißt, ich wäre - so traurig, so tragisch das ist - nicht überrascht, wenn das Gericht einer Auslieferung zustimmen würde."

Berufungsverhandlungen - bis zum EGMR in Straßburg

Wie auch immer das Urteil ausfällt: Beide Parteien haben die Möglichkeit, in Berufung zu gehen. Nach zwei möglichen Instanzen in Großbritannien könnte das Auslieferungsverfahren am Ende beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte landen. Die Frage, ob Julian Assange an die USA ausgeliefert wird, könnte sich also noch Jahre hinziehen.

Deshalb hat UN-Folterexperte Nils Melzer am 8. Dezember die britischen Behörden offiziell zur sofortigen Entlassung Assanges aus dem Gefängnis aufgefordert. Für die Dauer des Auslieferungsverfahrens könnten die britischen Behörden ihn unter Hausarrest stellen. Melzer wies nachdrücklich darauf, dass Assange kein verurteilter Straftäter sei, sondern allein präventiv festgehalten würde, bis der Ausgang des Auslieferungsverfahrens feststeht.

Für Hausarrest in solchen Fällen gibt es prominente Beispiele. Der chilenische Diktator Augusto Pinochet zum Beispiel durfte in den 1990er Jahren sein Auslieferungsverfahren komfortabel in einer Villa außerhalb Londons abwarten. Zu Weihnachten konnte der Massenmörder sogar einen Priester einfliegen.

Den nächsten Abschnitt Mehr zum Thema überspringen