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Selbstdemontage eines Hoffnungsträgers

30. November 2020

Eigentlich ist der Corona-Impfstoff von AstraZeneca ein vielversprechender Kandidat. Aber durch eine katastrophale Kommunikation bei der Vorstellung und Ungereimtheiten bei der Studie ist das Mittel in Verruf geraten.

Polen Firmen arbeiten am Coronavirus Impfstoff
Bild: picture-alliance/NurPhoto/J. Porzycki

Die gute Nachricht ist: Sehr viel spricht dafür, dass der von AstraZeneca und der Universität Oxford entwickelte Impfstoff sehr wirksam, sehr sicher und sehr robust ist, weil er nicht so aufwendig gekühlt werden muss wie einige mRNA-Impfstoffe. Punkt.

Dass in der letzten Zeit so lebhaft über diesen Vektor-Impfstoff AZD1222 debattiert wurde, liegt weniger am Impfstoff selbst, sondern an der katastrophalen Kommunikation des Herstellers, die nicht nur viele Fragen offen ließ, sondern unnötig das Vertrauen in diesen Impfstoff  erschütterte.

Gerade weil die Corona-Impfstoffe in Rekordzeit entwickelt werden, muss die Bevölkerung aber die Gewissheit haben, dass die Impfstoffe trotzdem sicher sind. Und das sind sie, denn sonst werden sie nicht zugelassen.

Setzten die Erfolge der Konkurrenz AstraZeneca unter Erfolgsdruck?Bild: picture-alliance/dpa/L. Raphael

Nachdem die Mitbewerber Biontech/Pfizer und Moderna mit ihren Erfolgsmeldungen und überraschend hohen Wirksamkeitswerten vorgeprescht waren, sah sich wohl auch der britisch-schwedische Konzern AstraZeneca gezwungen, erste Zwischenergebnisse der Wirksamkeitsstudie zu präsentieren, die aber schwer zu verstehen waren. Und dann gab es auch noch Zweifel an der Methodik der Studie.

Komplizierte Ausgangslage

Um die präsentierten Zahlen zu verstehen, muss man wissen, dass die präsentierte Wirksamkeit von 70 Prozent ein gemittelter Wert aus zwei verschiedenen klinischen Studien war. Insgesamt nahmen an den beiden Studien 11.636 Testpersonen teil, das sind deutlich weniger als bei den Studien der Mitbewerber. 

Bei AstraZeneca nahmen an einer kombinierten Phase-II/III-Studie (COV002) im Vereinigten Königreich 2.741 Probanden teil. Zu der Testgruppe gehörten allerdings nur jüngere Teilnehmer (unter 55 Jahre) und Probanden ohne Vorerkrankungen. Diese Impfgruppe bekam zunächst eine halbe Impfstoff-Dosis und vier Woche später noch einmal die volle Dosis. Bei dieser Gruppe habe die Wirksamkeit 90 Prozent betragen, teil das Unternehmen mit.

An der zweiten Phase-III-Studie (COV003) nahmen in Brasilien 8.895 Probanden teil, dazu gehörten auch ältere Personen und Probanden mit Vorerkrankungen. Hier bekamen die Testpersonen gleich zweimal die volle Dosis, doch überraschenderweise lag die Wirksamkeit hier "nur" bei 62 Prozent. Nimmt man nun beide Effektivitätswerte zusammen, ergibt dies rechnerisch eine Wirksamkeit von 70 Prozent.

An der Studie in Brasilien nahmen auch altere Testpersonen und Probanden mit Vorerkrankungen teilBild: Getty Images/AFP/N. Almeida

Eine 70-prozentige Wirksamkeit empfanden einige Beobachter zu Unrecht als enttäuschend, hatten die Mitbewerber Biontech/Pfizer doch eine Effektivität von 95 Prozent und Moderna von 94,5 Prozent in Aussicht gestellt.

Nur zum Vergleich: Die Effektivität der Grippeimpfung betrug laut Robert-Koch-Institut  in der Influenza-Saison 2018/2019 gerade mal 21 Prozent.  Das heißt, die Impfung schütze nur etwa jeden fünften Geimpften.

Unterschiedliche Dosierungen durch Panne

Nicht nur die Vermischung zweier Studien, sondern auch die stark abweichende Wirksamkeit je nach Dosierung war für die Fachwelt rätselhaft. War das Ergebnis nur ein Zufall oder gibt es eine immunologische Begründung, fragte etwa Gerd Fätkenheuer, der Leiter der Infektiologie an der Uniklinik Köln, gegenüber dem Science Media Center (SMC).

Zunächst stellte es AstraZeneca so dar, ab wäre die unterschiedliche Dosierung absichtlich gewählt worden. Dann musste der Konzern einräumen, dass die unterschiedliche Dosierung durch eine Panne zustande kam: Durch einen Produktionsfehler waren die Impfstofffläschchen zunächst nur halb gefüllt, deshalb bekam die Studiengruppe im Vereinigten Königreich zunächst eine niedrigere Dosis und erst einen Monat später noch einmal die volle Dosis.

Erst eine fehlerhafte Dosierung, dann ein nachträglich geändertes StudienprotokollBild: Andrew Yates/AFP/Getty Images

Mehr noch: Das Unternehmen schloss die Teilnehmer mit der halben Dosis nicht von der Studie aus, sondern passte stattdessen lieber den kompletten Aufbau der Studie an.

Das aber ist ein schwerer Verstoß gegen die gängige Praxis, denn bei einer Studie müssen sich die Forschenden an das zu Beginn festgeschrieben Protokoll halten. Nur so kann sichergestellt werden, dass bei der Studie nicht getrickst wird und etwa Studienergebnisse so interpretiert werden, wie es gerade am besten passt.

Wie sicher ist der AstraZeneca-Impfstoff?

Neben der Wirksamkeit ist natürlich die Sicherheit eines Impfstoffs von zentralen Bedeutung. Laut der vorläufigen Zwischenauswertung gab es laut AstraZeneca bei den Versuchspersonen keine schweren Nebenwirkungen. 

Im September hatte AstraZeneca indes den Phase-3-Test für seinen Corona-Impfstoff-Kandidaten für fast sieben Wochen unterbrochen, nachdem bei einem Geimpften aus Großbritannien eine Entzündung des Rückenmarks aufgetreten war. Eine solche Transverse Myelitis kann zu Lähmungen und Muskelschwächen führen. Doch offenbar kamen die Gutachter zu dem Ergebnis, dass der Vorfall nicht eindeutig der Impfung zugeschrieben werden konnte. 

Vorübergehende Pausen sind bei klinischen Studien nicht ungewöhnlich, schließlich muss jeder Fall detailliert geprüft werden. 

Rechtsstreit um Covishield in Indien

Für Unruhe sorgt jetzt ein neuer Fall aus dem indischen Pune. Dort war ein 40-jähriger Mann, der freiwillig an der Studie mit dem Impfstoff AZD1222 teilnahm, an einer akuten Hirnhautentzündung erkrankt. In Indien, wo auch das Serum Institute of India an der Entwicklung beteiligt ist, wird der Impfstoff unter dem Namen Covishield verabreicht. Dies habe einen neurologischen Zusammenbruch und eine Beeinträchtigung der kognitiven Funktionen zur Folge gehabt.

Mehr als 1,3 Milliarden Menschen leben in Indien. Sie alle sollen eine Corona- Impfung bekommenBild: Prabhakarmani Tewari/DW

Der Unternehmensberater klagt jetzt auf Entschädigung und fordert eine Produktionsstopp des Covishield-Impfstoffs. Das Serum Institute of India wiederum bezeichnete die Anschuldigungen als bösartig und falsch, für einen Zusammenhang zwischen Erkrankung und Impfung gebe es keinerlei Belege.

Blick nach vorne

Die unklare Kommunikation, das Zusammenlegen von zwei Studien, der zunächst verheimlichte Grund für die unterschiedliche Dosierung und das nachträglich veränderte Design des Studienprotokolls haben das Vertrauen der Fachwelt und auch der Bevölkerung in den AstraZeneca-Impfstoff unnötig erschüttert.

Nach dieser Kommunikations-Katastrophe bleibt dem schwedisch-britischen Konzern nur ein beherzter Schritt nach vorne: AstraZeneca hat bereits eine neue Studie angekündigt, an der mehr Probanden und auch ältere Testpersonen oder welche mit Vorerkrankungen teilnehmen sollen. Vor allem aber soll die Studie verlässlichere Daten liefern und verloren gegangenes Vertrauen wieder herstellen.

Vielleicht haben die Mitbewerber bis dahin ihre Impfstoffe bereits auf dem Markt, aber weltweit ist der Bedarf an Corona-Impfstoffen so groß, dass auch ein zuverlässiger Impfstoff von AstraZeneca reißenden Absatz finden wird. Gerade in Weltregionen, in denen ein robuster Impfstoff benötigt wird, den man einfach über Monate in einem normalen Kühlschrank lagern kann.

Dieser Artikel wurde am 1. Dezember 2020 aktualisiert um deutlicher herauszustellen, dass Covishield und AZD1222 identische Impfstoffe unter anderem Namen sind.

Einen Monat nach der Veröffentlichung dieses Artikels, am 30. Dezember 2020, haben die britischen Behörden eine Zulassung für den Impfstoff erteilt.  

 

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