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Politik

Lagerkoller und Gewalt? Die Angst vor dem Ankerzentrum

Naomi Conrad | Esther Felden
26. Juni 2018

Deutschlands Innenminister Horst Seehofer plant, Asylsuchende in Ankerzentren unterzubringen: Dort sollen sie bis zur Entscheidung bleiben. Das bereitet vielen Beteiligten Sorge.

Deutschland Ankunftszentrum Bad-Fallingbostel-Oerbke in Niedersachsen
Bild: DW/N. Conrad

Am Wochenende standen wieder Menschen vor dem Tor, so um die zwanzig, schätzt Brigit Gerdes, "Gäste", die um Einlass baten. Gast, das Wort rutscht der energischen Frau immer wieder raus, manchmal verbessert sie sich, oft auch nicht. Asylsuchende sollte sie eigentlich sagen, vielleicht auch Flüchtlinge. Auf jeden Fall sind es derzeit vor allem Syrer, Iraker, Afghanen und Türken, auch mal Georgier, die im Ankunftszentrum in der Kleinstadt Bad Fallingbostel anklopfen, das Gerdes leitet. Menschen, die meist eine lange, fast immer beschwerliche Reise hinter sich haben und dann hier im beschaulichen Norden Deutschlands landen.

Ankunftszentrum, den Begriff haben sich die Behörden für die Einrichtung ausgedacht. Die Zentren dienen als Anlaufstelle für Asylsuchende, die noch keinen Antrag gestellt haben. Hier werden sie registriert, von einem Arzt untersucht, oft auch geimpft. Dann folgt die Anhörung, der Moment, in dem sie ihre Geschichte erzählen und versuchen, darzulegen, warum sie es verdienen, nicht abgeschoben zu werden. 

Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien 

Menschen wie Samir El Hussein, ein schmächtiger Mann, der leise spricht, fast schüchtern. Blaue Tattoos überziehen seine Arme wie Spinnweben. Eigentlich ist er Damenfriseur, aber er habe schon lange keine Haare mehr geschnitten, sagt er, fast entschuldigend. Bei der Registrierung folgt er schnell den Anweisungen, starrt geradeaus in die Kamera für die Fotos. Lächeln tut er nicht. Er komme aus Afrin, übersetzt ein Mitarbeiter des Ankunftszentrums. Aus der Stadt in Nordsyrien also, in die Anfang des Jahres türkische Truppen einmarschiert sind, um kurdische Kämpfer zu vertreiben.

Warum er nach Deutschland gekommen ist?  "Aufgrund des Krieges, da waren überall Milizen." Zusammen mit anderen habe er versuchte, seine Stadt gegen die Offensive der türkischen Armee und syrischen Milizen zu verteidigen. Gelungen ist es ihnen nicht: Heute ist Afrin unter türkischer Kontrolle. 

El Hussein spricht stockend, dann bricht es aus ihm heraus. Er redet immer schneller, immer verzweifelter: Davon, wie er vom Regime des syrischen Präsidenten Assad gefangen genommen wurde, ein Jahr habe er im Gefängnis verbracht, bis er endlich fliehen konnte. Er zeigt auf Narben auf seinem Arm, auf seine Stirn, auch dort sind tiefe Narben. Was er dort in Afrin, im Gefängnis, erlebt habe, könne man nicht mit Worten beschreiben, so fasst der Bearbeiter zusammen. Und: "Wenn man den Ort hier damit vergleicht, dann ist das ein Paradies."

El Hussein hofft, seine Frau bald nachholen zu können. Bild: DW/N. Conrad

Das Hier: Schlichte beige und weiße Wohnblöcke, umgeben von sattgrünem Gras und hohen Bäumen. Noch vor ein paar Jahren wurden aus dieser Kaserne, die eine Stunde mit dem Regionalzug von der niedersächsischen Landeshauptstadt Hannover entfernt ist, britische Soldaten in den Krieg geschickt, zuletzt nach Afghanistan und in den Irak. Jetzt sind viele der Gebäude verlassen. Die breiten Wege sind am späten Nachmittag Ende Juni weitgehend leer. Ein Wachmann sitzt vor einem Holzhäuschen, eine Familie, gerade angekommen, Plastiktüten in den Händen, folgt einem Mann mit Klemmbrett. Ein fast idyllischer Ort, trotz der Zäune, die ihn umgeben.

Lange wird Samir El Hussein nicht im Camp bleiben: Zwei bis vier Wochen, in Ausnahmefällen auch sechs, so lange dauert das Verfahren. Menschen mit guten Bleibechance, derzeit sind das vor allem Syrer, erhalten schnell einen positiven Bescheid und werden auf die Kommunen in ganz Deutschland verteilt, so sieht es das Gesetz vor. Zieht sich das Verfahren länger hin, dann kommen die Asylsuchenden in andere Flüchtlingsunterkünfte.

"Historisch belasteter Ort"

370 Menschen, erzählt die Leiterin Gerdes, befinden sich derzeit in der Erstaufnahmeeinrichtung Bad Fallingbostel. Mal sind es mehr, mal weniger, die in der ehemaligen Militär-Kaserne wohnen. Auf einem Fußballplatz spielt ein kleiner Junge, auf dem Zaun hängt Wäsche zum Trocknen. Es gibt eine Laufgruppe, ein Frauencafé, auch einen kleine Kindergarten, in dem bunte Bilder an den Wänden hängen. Draußen rasen Kinder mit Rollern über den Asphalt.

Bis 2015 lebten hier britische Soldaten. Die alte Militäranlage wurde ursprünglich in den 1930er Jahren von der deutschen Wehrmacht gebaut. Bad Fallingbostel war der Ort, an dem die Nationalsozialisten den Russlandfeldzug planten. Auch die Briten planten hier später Auslandseinsätze. Die Kaserne mit ihren Restaurants, Bars und einem Kino war ein großer Arbeitgeber für die Region, hat aber auch immer wieder Flüchtlinge beherbergt: Erst die Deutschen, die nach Kriegsende aus dem Osten vertrieben wurden, dann Flüchtlinge aus der DDR und schließlich Spätaussiedler aus Russland. Aber der Ort hat auch eine düstere Geschichte: Tausende russische Kriegsgefangene sind hier gestorben. 

Erzieherin. "Ich versuche, nicht daran zu denken, dass manche Kinder abgeschoben werden." Bild: DW/N. Conrad

Ein "historisch belasteter" Ort, so sagt es Andreas Ege, Ortsvorsteher des kleinen, beschaulichen Orts Oerbke, der direkt an die Kaserne grenzt. Von seinem Büro blickt man auf viel Grün, auf kleine Fachwerkhäuser und auf die grauen Dächer der Baracken. Dazwischen: Ein Gedenkstein für die Toten des Zweiten Weltkrieges. Ein kleiner, verschlafener Ort, bis man draußen ein dumpfes Donnern hört. Artillerie, vielleicht auch Panzer: Soldaten, die für den Krieg üben. Oerbke und die ehemalige Kaserne liegen auf einem der größten Truppenübungsplätze Westeuropas. Je nach Windrichtung höre man den Gefechtslärm mal mehr, mal weniger, erzählt Ege.

Lärm, von dem Kai Weber vom Flüchtlingsrat Niedersachsen sagt, dass er "einschüchternd und beängstigend" für Menschen sein müsse, die aus Kriegsgebieten kommen. 2015, nur wenige Monate nach dem feierlichen Abzug der Briten aus der Region, als immer mehr Asylsuchende nach Deutschland kamen und schnell Unterkünfte für sie gefunden werden mussten, habe er die Kaserne als Notunterkunft akzeptiert. Aber er halte den Ort für "absolut ungeeignet für eine längerfristige Unterbringung von Menschen." Weber zählt auf: Nicht nur wegen des Lärms, sondern auch weil die Kaserne fernab von allen Hilfsorganisationen liege, die sich traditionell um die Integration von Geflüchteten bemühen. Vom Ankunftszentrum sind es mehrere Kilometer bis zur nächsten Stadt, Bad Fallingbostel, deshalb gebe es kaum Kontakt mit der örtlichen Bevölkerung. 

Kritik am Ankerzentrum

Doch es ist gut möglich, dass trotz aller Bedenken es genau dazu kommt, dass hier längerfristig geflohene Menschen leben werden: Seit Wochen wird in Deutschland über die sogenannten Ankerzentren diskutiert, die Innenminister Horst Seehofer von der CSU, der Schwesterpartei von Angela Merkels CDU, plant. Eine Diskussion, die vom Streit in der Koalition um Abweisungen an der Grenze, die Seehofer fordert, überschattet wird. 

Doch auch die Ankerzentren sind umstritten: Dort soll nach dem Willen Seehofers künftig das komplette Asylverfahren abgewickelt und somit beschleunigt werden, bis hin zur Abschiebung von den Menschen, die kein Asyl erhalten. Erwachsene alleinstehende Asylbewerber sollen bis zu 18 Monaten, Familien bis zu sechs Monaten in den Zentren bleiben. Mehrere Pilotprojekte sollen in verschiedenen Bundesländern entstehen. Derzeit unterstützen drei Bundesländer den Plan, andere, darunter auch Niedersachsen, hadern noch. Dabei bringt Bad Fallingbostel-Oerbke mit seinen leerstehenden Häusern und der funktionierenden Infrastruktur für fast 7000 Menschen alles mit, was der zuständige Innenminister Horst Seehofer von einem Ankerzentrum erwartet.

Das Camp Bad Fallingbostel-Oerbke dränge sich ja förmlich auf, sagt auch Ortsvorsteher Ege. Der Orstvorsteher fürchtet, formuliert es aber vorsichtig, dass "Unmut" aufkommen könnte, wenn Menschen, die keine Perspektive sehen, in der alten Kaserne dauerhaft zusammenleben

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Flüchtlingshelfer Weber ist direkter: Menschen, die in "Lagern" leben müssten, er wählt das Wort ganz bewusst, würden schnell ihre Kraft verlieren. "Sie werden mutlos, sie kriegen psychische Probleme, Lagerkoller, Gewalt – all das sind Nebenerscheinungen von Großlagern, in denen Menschen zusammengepfercht werden, die eigentlich nichts anderes machen dürfen als essen und schlafen." Möglich sei auch, dass das Zentrum dann vielleicht Schauplatz für Demonstrationen von Rechts und Links werden könne.

"Ich wüsste auch gerne, was da vorgesehen ist" 

Aber Ege und Weber wissen, dass das ehemalige Kasernengelände mit den vielen leerstehenden Häusern ideal geeignet wären für ein Ankerzentrum. Das fürchten auch die Anwohner: Immer wieder werde er in letzter Zeit angesprochen, erzählt Ege. Gerade ist Schützenfestzeit in der Region, bei den Volksfesten kämen die Menschen der Gemeinde auf ihn zu, besorgt von dem, was sie in den Nachrichten hören. Sie wollten wissen, ob das Ankunftszentrum denn nun zum Ankerzentrum werde. Ege aber kann sie nur vertrösten: "Ich wüsste ja auch gerne, was da genau vorgesehen ist."

Diese Unsicherheit wird auch von Mitarbeitern anderer Aufnahmebehörden immer wieder formuliert. Allerdings: Über Nacht kann der deutsche Innenminister keine Ankerzentrum errichten, es gibt zu viele unbeantwortete Fragen und bürokratische Hürden. Es werde bestimmt Monate dauern, solche Dinge zu klären, erzählt ein Mitarbeiter einer Behörde in Sachsen.

Standortleiterin Gerdes in Bad Fallingbostel bleibt diplomatisch: "Ich bin ganz froh, dass die sehr herausfordernde Diskussion im Moment ohne uns geführt wird." Aber seit einigen Wochen muss sie immer wieder niedersächsische Politiker-Delegationen durch das Ankunftszentrum führen, die, das merkt sie, fast so viele Fragen haben wie sie.

 

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