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Frankreich und Algerien erneut in der Krise

15. April 2025

Algerien und die ehemalige Kolonialmacht Frankreich stehen erneut am Scheideweg. Anlässlich der Entführung eines algerischen Influencers in Frankreich treten die Spannungen jetzt wieder offen zutage. Was steckt dahinter?

Der französische Außenminister Jean-Noel Barrot (l) und der algerische Präsident Abdelmadjid Tebboune schütterln einander die Hand, Algier, 6. April 2025
Erst schwierige Gespräche - und jetzt wieder Streit: der französische Außenminister Jean-Noel Barrot (l.) und Algeriens Präsident Abdelmadjid Tebboune Anfang April in AlgierBild: Philemon Henry/France's Ministry of Europe and Foreign Affairs/AFP

Frankreich und Algerien proben den Schlagabtausch. Am Freitag vergangener Woche (11.04.) hatte die französische Staatsanwaltschaft ein Strafverfahren gegen drei Algerier eröffnet - darunter ein Beschäftigter des algerischen Konsulats. Sie stehen in Verdacht, im April 2024 an der Entführung des algerischen Regierungskritikers und Influencers Amir Boukhors in einem Pariser  Vorort beteiligt gewesen zu sein. Als Reaktion darauf hatte das algerische Außenministerium dann offenbar bereits am Wochenende zwölf französische Beamte angewiesen, das Land innerhalb von 48 Stunden zu verlassen

Am Montag dieser Woche reagierte darauf wiederum Frankreichs Außenminister Jean-Noel Barrot. Er forderte Algerien auf, die Entscheidung zur Ausweisung der Diplomaten zurückzunehmen - andernfalls habe man "keine andere Wahl, als sofort darauf zu reagieren". Barrot war erst vor gut einer Woche noch zu Gesprächen in Algier.

Schwierige Kolonialgeschichte

Die Spannungen zeigen eines: Die Temperatur im Verhältnis zwischen Frankreich und Algerien ist nach zwischenzeitlicher atmosphärischer Verbesserung längst wieder im Keller. 

Im Sommer 2022 sah dies zeitweise anders aus. Damals hatte Präsident Emmanuel Macron Algerien besucht und die frühere Kolonialherrschaft seines Landes dort symbolkräftig als "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" bezeichnet. 

Dies sei ein vielbeachtetes geschichtspolitisches Zeichen gewesen, das in Frankreich selbst auch über 60 Jahre nach seinem Rückzug aus Algerien nicht selbstverständlich sei, sagt der Politologe Hasni Abidi vom Genfer Studien- und Forschungszentrum zur arabischen und mediterranen Welt (CERMAM). Es habe während der Kolonialzeit und insbesondere während des algerischen Befreiungskrieges auch auf französischer Seite viele Tote gegeben. "Daher ist der Kolonialismus bis heute ein sensibles Thema - und zwar umso mehr, als sich die französische Rechte, insbesondere deren extremer Teil, weigert, die Aussage Macrons zu akzeptieren."

Der Westsahara-Konflikt

Die durch Macrons Reise zwischenzeitlich zumindest atmosphärisch etwas aufgebesserten Beziehungen erhielten jedoch schnell einen neuen deutlichen Knacks, als Frankreich sich im Sommer 2024 im Westsahara-Konflikt auf die Seite Marokkos stellte. Marokko beansprucht die Kontrolle über die von ihm 1975 annektierte Region. Algerien hingegen unterstützt die Bewegung "Frente Polisario", die eine Unabhängigkeit der Westsahara anstrebt. Aus Protest zog Algerien im Juli 2024 sogar seinen Botschafter aus Frankreich ab. Algerien habe den französischen Schritt als eine Art Verrat angesehen, sagt Hasni Abidi. Algerien sei auch darum erbost gewesen, weil die Stimme Frankreichs als ständigem Mitglied des UN-Sicherheitsrates von hohem Gewicht sei.

Westsahara-Flüchtlinge in einem algerischen Camp feiern den 50. Jahrestag der Gründung der "Frente Polisario", Mai 2023Bild: Guidoum Fateh/AP Photo/picture alliance

Die Affäre Boukhors

Das jüngste Zerwürfnis beider Staaten kreist um den algerischen Regierungskritiker und Influencer Boukhors, der seit 2016 in Frankreich lebt und dort 2023 politisches Asyl erhielt. Bekannt wurde er für scharfe Kritik am algerischen Regime in sozialen Netzwerken. Amir Boukhors ist dort als Influencer unter dem Namen "Amir DZ" bekannt und hat mehr als eine Million Follower auf der Online-Plattform TikTok. 

Zwischen 2015 und 2019 sei er von algerischen Gerichten wiederholt wegen angeblichen Betrugs, Bedrohung, Verleumdung und anderer Delikte verurteilt worden, berichtet unter anderem die Zeitung Le Figaro. Zudem stellte Algerien demnach 2021 zwei Auslieferungsanträge, unter anderem wegen "Mitgliedschaft und Zugehörigkeit zu einer terroristischen Vereinigung." Das Berufungsgericht in Paris hatte die Auslieferungsanträge jedoch abgewiesen.

Boukhors sei Ende April 2024 in Frankreich entführt und einen Tag später wieder freigelassen worden, berichten französische Medien wie France 24. Boukhors Anwalt erklärt dazu, Algerien habe versucht, seinen Mandanten zu entführen, nachdem die vorhergehenden Haftbefehle abgewiesen worden seien.

Algerien wehrte sich gegen diese Darstellung. Das Außenministerium sprach von einer "untragbaren Intrige". Das Land engagiere sich auch darum so sehr in der Affäre, weil diese über die sozialen Medien auch die eigene Bevölkerung aufwühle, sagt Robin Frisch, Leiter des Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung in Algier. "Digitale Medien kennen ja keine Grenzen, und alles, was Boukhors veröffentlicht, lesen auch die Algerier. Das ist der algerischen Regierung offenbar nicht recht."

Der Tik-Tok-Account des Influencers Amir Boukhors (Screenshot)Bild: https://www.tiktok.com/@amir.dz

Streit um einen Schriftsteller

Angespannt sind die französisch-algerischen Beziehungen auch aufgrund der Verhaftung und kürzlich erfolgten Verurteilung des Schriftstellers Boualem Sansal. Der algerische Autor mit französischer Staatsangehörigkeit war im November 2024 in Algerien verhaftet worden, nachdem er gegenüber einem als rechtsextrem geltenden YouTube-Kanal erklärt hatte, ein Teil des algerischen Staatsgebiets gehöre aus geschichtlicher Perspektive zu Marokko, Algeriens Nachbarn und Rivalen. Im März wurde der 80 Jahre alte Autor zu fünf Jahren Haft verurteilt.

Sansal stehe der politischen Rechten nahe, sagt Experte Hasni Abidi. Seine Verhaftung habe in Frankreich für erhebliche Diskussionen gesorgt. "Das Thema ist entsprechend heikel. Die allermeisten Franzosen fordern Sansals Freilassung. Macron kann es sich darum nicht leisten, es nicht anzusprechen." Tatsächlich hat Macron die Verhaftung Sansals in Algerien wiederholt öffentlich kritisiert. Zuletzt hatte er Ende März dieses Jahres seine Freilassung verlangt.

Fünf Jahre Haft: der algerisch-französische Schriftsteller Boualem SansalBild: Francois Guillot/AFP

Innenpolitischer Druck 

Generell befinde sich Macron mit Blick auf Algerien in einer schwierigen Lage, sagt Robin Frisch von der Friedrich-Ebert-Stiftung. "Die französische Rechte fordert immer wieder ein härteres Vorgehen gegen die Regierung in Algiers. Dem kann sich Macron angesichts des Erstarkens des von Marine Le Pen geführten Rassemblement National nicht verschließen. Darum ist seine Haltung gegenüber Algerien aus dortiger Sicht auch ein Mittel, sich der politischen Rechten zu erwehren."

Das Gleiche dürfte allerdings auch umgekehrt gelten. Algerien hat enorme soziale und wirtschaftliche Probleme. Die Analphabetenquote liegt laut der Wirtschaftsinformationsgesellschaft "Germany Trade and Invest" (GTAI) bei 19 Prozent, die Arbeitslosenquote bei 12 Prozent. Betroffen ist von ihr vor allem die junge Bevölkerung, die insbesondere in der Bewegung "Hirak" in den vergangenen Jahren wiederholt gegen die Regierung aufbegehrt hat. Insofern dürften wiederholt öffentlich ausgetragene Auseinandersetzungen mit Frankreich auch für Algeriens Herrschende ein Mittel sein, um die Aufmerksamkeit von zentralen innenpolitischen Problemen abzulenken.

Frankreichs Sühne

03:22

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Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika