Debatte um Atomstrom wieder entbrannt
25. Juni 201023 Prozent des Strombedarfs wurde 2009 in Deutschland durch Atomkraftwerke gedeckt. Und diese 23 Prozent Strom erhitzen wieder einmal die Gemüter. Für die einen - und dazu gehören vor allem die vier großen Energiekonzerne E.ON, RWE, EnBW und Vattenfall - ist der Atomstrom eine zuverlässige, sichere und deshalb unverzichtbare Energiequelle - und auch eine gute Einnahmequelle: Pro Atommeiler jährlich rund 300 Millionen Euro zusätzlich, schätzen Umweltverbände. Für die anderen - und dazu gehören Umweltverbände und die Lobbygruppen der erneuerbaren Energien - ist die Atomkraft der größte Bremsklotz auf dem Weg zu einer 100-prozentigen Stromversorgung mit Wind- und Solarenergie, Wasserkraft und Biomasse.
Sichere Stromversorgung trotz - oder wegen - Atomkraft
"Die Atomenergie und die erneuerbaren Energien schließen sich vom Prinzip her gewissermaßen aus", sagt Philipp Vohrer, politischer Referent bei der "Agentur für Erneuerbaren Energien". Denn Atomkraftwerke, Braun- oder Steinkohlekraftwerke müssten rund um die Uhr mit gleicher Leistung arbeiten. Das Wind- und Solarstromangebot dagegen schwanke Tageszeiten bedingt. "Da muss man flexible Kraftwerke zuschalten, das können Gaskraftwerke sein oder auch Biomasse-Kraftwerke, aber in Zukunft immer weniger die großen, inflexiblen Braunkohle- und Atomkraftwerke", analysiert Philipp Vohrer.
"Die Kernenergie ist eine Brückentechnologie, bis sie durch erneuerbare Energien verlässlich ersetzt werden kann", heißt es dagegen im Koalitionsvertrag der derzeitigen konservativ-liberalen Bundesregierung (CDU/CSU und FDP). 2009 lag der Anteil der erneuerbaren Energien am deutschen Strom-Mix noch bei 16 Prozent. Bis zum Jahr 2020 sollen die erneuerbaren Energien ungefähr die Hälfte der deutschen Stromversorgung decken können, prognostiziert Philipp Vohrer. "Das heißt, sie kompensieren den heutigen Anteil der Atomenergie und noch mehr. Wozu dann also eine Verlängerung der Brücke?"
Für Umweltgruppen kommt eine Laufzeitverlängerung schon deshalb nicht in Frage, weil die ungelöste Entsorgung der hochradioaktiven Abfälle sowie der Weiterbetrieb ein unkalkulierbares Risiko seien. "Wenn der Staat jetzt unter dem Druck der Konzerne eine Laufzeitverlängerung beschließt, verletzt er seine Schutzpflichten, indem er die Produktion von zusätzlichem Atommüll ohne geeignete Entsorgungsmöglichkeit zulässt", sagt Rainer Baake, Geschäftsführer der "Deutschen Umwelthilfe".
Die Angst vor der Stromlücke
Ohne die Atomenergie drohe eine "Stromlücke", kontert der Lobby-Verband der Atomkraftwerksbetreiber, das "Deutsche Atomforum". Und kämpft hinter den Kulissen bei der Bundesregierung für eine Laufzeitverlängerung der 17 Kernkraftwerke, die noch am Netz sind. Als möglich gilt eine Laufzeitverlängerung um zusätzlich zehn Jahre, aber auch bis zu 17 Jahre mehr sind im Gespräch. Weil der Pressesprecher des Atomforums derzeit aber lieber schweigt, als sich zu verplappern, lässt er auch die Antwort seines ehemaligen Kollegen Bernd Arts gelten: "Sie können Kernenergie nur durch Kohlekraftwerke oder aber durch Gaskraftwerke ersetzen", sagte Arts, um zu erklären, dass es vor allem die fehlende Kontinuität sei, warum die erneuerbaren Energien auch in Zukunft nicht zu einem veritablen Ersatz für Atomkraft werden könnten.
Jetzt handeln und nicht weiter abwarten
Eine Ansicht, die Philipp Vohrer für ziemlich reaktionär hält. Auch er weiß, dass die Atomkraftwerke nicht sofort abgeschaltet werden könnten. Aber ein Atomausstieg bis 2022 lasse genug Zeit, die Stromversorgung umzubauen, sagt Vohrer. Wer eine verlässliche und stetige Stromversorgung durch erneuerbaren Energien wolle, der müsse jetzt massiv die Stromnetze ausbauen. Außerdem brauche es marktreife Energiespeichertechniken sowie flexible Kraftwerkstypen, die auf die erneuerbaren Energien und ihre Schwankungen reagieren könnten. Wer das bereitstelle, der habe - trotz aller Schwankungen der Erneuerbaren - eine stabile Energieversorgung, sagt Vohrer.
Die Atombranche dagegen verweist auf die ambitionierten Klimaschutzziele Deutschlands, die nur mit der Kernenergie zu erreichen seien. Denn 40 Prozent weniger Treibhausgasemissionen bis 2020 (gegenüber 1990), "das ist aus unserer Sicht ohne den Beitrag der Kernenergie nicht realisierbar. Die Kernenergie vermeidet Jahr für Jahr knapp 150 Millionen Tonnen CO2", sagt Bernd Arts.
Neuer Zündstoff: Steuer auf Brennelemente
Dass die deutsche Regierung einer Verlängerung der Laufzeiten aber nur zustimmen will, wenn dadurch neue Steuereinnahmen für den Staat anfallen, das erhitzt die Gemüter der großen Energiekonzerne. Im jüngst angekündigten nationalen 80-Milliarden-Euro-Sparpaket der Regierung wurde eine neue Brennelementesteuer für die Atomkraft erfunden. 2,3 Milliarden Euro soll die dem Staat jährlich einbringen. Umweltschutzverbänden ist das noch zu wenig: Die ungeklärte Endlagerfrage werde die Steuerzahler noch Milliarden-Euro-Beträge kosten, an denen sich auch die Industrie beteiligen sollte.
Die Atomkraftwerksbetreiber sehen darin allerdings eine einseitige Diskriminierung zu Lasten eines Energieträgers, ein Verstoß gegen geltendes EU-Recht (EU-Energiesteuerrichtlinie) und gegen die Vereinbarungen des Atomausstiegsgesetzes. Nicht wenige der 870.000 Arbeitsplätze in den energieintensiven Industrien Deutschlands seien in Gefahr, warnt der Geschäftsführer des "Bundesverbandes der Deutschen Industrie", Werner Schnappauf. Und der Chef des Energiekonzerns EnBW Hans-Peter Villis sagt: "Wir haben immer signalisiert, wir sind bei einer Laufzeitverlängerung bereit, einen Großteil unserer zusätzlichen Gewinne in den Ausbau erneuerbarer Energien zu investieren". Mit einer Brennelementesteuer passe das aber nicht zusammen, uretilte er frustriert kürzlich in einem Fernseh-Interview. Die Energiekonzerne erwägen eine Klage gegen die Brennelementesteuer.
Bundeskanzlerin Merkel will über die Zukunft der Atomkraft endgültig in ihrem neuen Energiekonzept entscheiden - spätestens bis Ende August. Ob die Atomkraft Bremsklotz oder Rettungsanker ist, wird aber auch dann endgültig noch nicht geklärt sein.
Autor: Richard A. Fuchs
Redaktion: Nicole Scherschun