Zäher Atomkraft-Ausbau in der Slowakei
20. März 202313.153 Tage, so lange hat es am Ende gedauert: 36 Jahre und vier Tage nach Baubeginn wurde der dritte Block des Atomkraftwerks Mochovce in der Slowakei erstmals mit dem europäischen Stromnetz synchronisiert. In Zeiten der Energiekrise setzt das kleine mitteleuropäische Land große Hoffnungen in den Reaktor: Das 5,7 Milliarden Euro teure Kraftwerk soll die Slowakei erstmals zum Netto-Exporteur machen, also dazu beitragen, dass sie in Summe mehr Strom produziert als sie selbst verbraucht. Den Anteil von Atomstrom im gesamten Mix soll Mochovce 3 von 52 auf 65 Prozent steigern.
Während in Deutschland zum 15. April nun endgültig der Abschied von der Atomkraft ansteht, gilt sie der Slowakei weiter als Zukunftstechnologie. Laut einer Umfrage des Elektrizitätsbetreibers Slovense Elektrarne (SE) sehen 43 Prozent der Bevölkerung in ihr ein zentrales Element gegen die Klimakrise. Bürger und Fachleute sind mehrheitlich pro Atomkraft - und in unmittelbarer Nachbarschaft zu den Meilern ist die Zustimmung noch einmal deutlich größer.
Langer Baustopp: Das neue Kraftwerk ist schon alt
Dabei gibt es auch Kritik an der Sicherheit der Anlagen, insbesondere aus dem Nachbarland Österreich. Die Bevölkerung der Alpenrepublik hatte 1978 per Volksentscheid das einzige eigene Atomkraftwerk noch vor Inbetriebnahme gestoppt, weitere Bauvorhaben wurden verworfen. Nun trennen keine 100 Kilometer Luftlinie das Atomkraftwerk Mochovce von der österreichischen Landesgrenze; vom zweiten slowakischen Atom-Standort Jaslovské Bohunice sind es sogar nur rund 60 Kilometer bis zum nächstgelegenen österreichischen Dorf.
Ortstermin in Mochovce mit Reinhard Uhrig von der österreichischen Umweltschutz-Organisation Global 2000 im vergangenen Dezember. Unter den Schuhen knirscht eine dünne, löchrige Schneedecke. In einer Senke ist gut das Kraftwerksareal zu erkennen: Rechts dampfen die vier Kühltürme der alten Blöcke 1 und 2. In der Mitte die riesigen Reaktorhallen; wie in einer übergroßen Doppelhaushälfte sind im linken, weinroten Trakt die neueren Meiler 3 und 4 untergebracht. Links davon ragen noch einmal vier Kühltürme in den blauen Himmel. "Die gesamte Bausubstanz rottet seit den späten 1980er, frühen 1990er Jahren vor sich hin", beklagt Reinhard Uhrig. "Das ist das einzige Atomkraftwerk in diesem Zustand, wo die Alterung schon vor Inbetriebnahme weit fortgeschritten ist."
Der im Januar 1987 begonnene Bau der Reaktorblöcke 3 und 4 fiel in bewegte Zeiten: Erst die Samtene Revolution in der Tschechoslowakei Ende 1989, dann die Teilung in zwei Staaten zum Jahresbeginn 1993. Der unabhängigen Slowakei fehlte schlicht das Geld für den Weiterbau. 15 Jahre später stieg ein italienischer Investor bei Slovenske Elektrarne ein und wagte sich an die Fertigstellung des Projekts.
"Dem Erdboden gleichmachen und vollkommen neu bauen"
Die lange Pause ist aus Uhrigs Sicht ein Problem: "Schon, wenn man das bestmöglich macht, verschleißen Bauteile, insbesondere Isolationsschichten, Dichtungen, Turbinenwellen, Generatorwellen." Jedoch sei die Baustelle auch noch schlecht konserviert worden: "Uns liegt Fotomaterial von einem Whistleblower vor, wie zum Beispiel ein Notstrom-Dieselgenerator in einer Wasserpfütze steht." Für den vierten Block, der im Laufe der nächsten zwei Jahre fertiggestellt werden soll, sieht Uhrig weniger Probleme, weil der Bau vor dem Stopp weniger weit gewesen sei.
An einigen Stellen wurde die Konstruktion überarbeitet, grundlegend handelt es sich jedoch immer noch um verhältnismäßig alte Technik. So bemängelt Uhrig eine fehlende Schutzhülle, ein sogenanntes Containment, das den Reaktor vor Flugzeugabstürzen und Terroranschlägen schützen könnte. Uhrig spricht von Punkten, "die nicht reparierbar sind, wo man also die Anlage dem Erdboden gleichmachen und vollkommen neu bauen müsste."
Global 2000 und auch die Regierung in Wien hatten mehrfach Beschwerden eingelegt und sind letztlich mit ihren Einsprüchen gescheitert. Im vergangenen August erteilte die slowakische Atomaufsicht eine endgültige Betriebsgenehmigung.
Die schwierige Abkehr von russischen Brennstäben
Mochovce 3 und 4 sind, genau wie die übrigen Reaktoren in der Slowakei, Druckwasserreaktoren sowjetischer Bauart. Vor dreieinhalb Jahrzehnten galt Moskau noch als Verbündeter - heute führt Russland in der Ukraine, dem östlichen Nachbarland der Slowakei, einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg. Das stellt den Betrieb der Atomkraftwerke vor ein geopolitisches Problem: Die sechseckigen Brennstäbe kamen bislang aus russischer Produktion, von einer Tochter der Atomgesellschaft Rosatom.
Kurz nachdem im vergangenen Frühjahr der EU-Luftraum für russische Flugzeuge geschlossen wurde, erteilte Bratislava noch eine Ausnahmegenehmigung, damit eine Frachtmaschine frische Brennstäbe anliefern konnte. Doch für die Zukunft sucht die Slowakei nach alternativen Lieferanten - genau wie Tschechien, Finnland, Ungarn und Bulgarien, in denen ebenfalls Atomkraftwerke sowjetischer Bauart stehen. In Tschechien wurden bereits Vereinbarungen mit Framatome aus Frankreich und Westinghouse aus den USA getroffen, die ab 2024 Brennstäbe liefern sollen.
Mochovce 3 als Rettung in finanzieller Not
Erst einmal wird aber Mochovce 3 mit russischen Brennstäben hochgefahren. Letztlich hat der Prozess länger gedauert als von der Betreibergesellschaft Slovenske Elektrarne erwartet; zuletzt warf im Dezember ein Leck am Reaktordruckbehälter den Zeitplan zurück. Die Verzögerungen haben SE in eine finanzielle Schieflage gebracht, weil bereits eingeplanter Strom zu zeitweise sehr hohen Preisen auf dem europäischen Markt beschafft werden musste. Stabile Preise für die Endkunden seien jedoch garantiert, schrieb eine SE-Sprecherin auf DW-Anfrage.
SE hatte sich in einem Abkommen mit der Regierung zu einem Strompreisdeckel von knapp über 61 Cent pro Kilowattstunde verpflichtet - momentan wird über Anpassungen verhandelt. Man sei "hoffnungsvoll, dass der Prozess in naher Zukunft abgeschlossen und ein Abkommen zwischen der Regierung und den Eignern von SE angekündigt wird", schrieb die Sprecherin. SE gehört je zu einem Drittel der slowakischen Regierung, der italienischen Enel und der tschechischen EPH Holding.
Mochovce 3 soll dabei helfen, die Vereinbarung mit der Regierung zu erfüllen, erklärte auch SE-Geschäftsführer Branislav Strýček kürzlich in einer Pressemitteilung des Unternehmens. Solange keine weiteren Zwischenfälle den Zeitplan torpedieren, will Slovenske Elektrarne Mochovce 3 in der zweiten Aprilhälfte auf 100 Prozent seiner Leistung hochfahren. Also genau dann, wenn Deutschland erstmals seit mehr als 60 Jahren keinen Atomstrom mehr produziert.