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Die Geschichten der Zeitzeugen aus Minsk

Olga Kapustina28. Januar 2013

Der Holocaust geschah nicht nur in den Konzentrationslagern. Nach dem Überfall auf die Sowjetunion ermordeten die deutschen Besatzer zwei Millionen Menschen vor Ort. Heute leben nur noch wenige Zeitzeugen.

Die Gedenkstätte "Die Grube" ist den 5.000 Menschen gewidmet, die am 2. März 1942 in Minsk ermordet wurden (Foto: DW/Olga Kapustina)
Bild: DW/O. Kapustina

Die Passanten machen einen Bogen um die kreisförmige, etwa 80 Meter große Grube mitten in Wohngebiet von Minsk. Der Schnee liegt auf den Köpfen der 27 Bronzefiguren: Sie sehen aus wie gesichtslose Schatten, die in eine Grube hinabsteigen.

Es ist ihr eigenes Grab. Ein paar Nelken zittern im eiskalten Wind. Unten, in der Grube, steht ein Obelisk aus schwarzem Stein. Er ist den 5.000 Juden gewidmet, die an diesem Ort während des Zweiten Weltkrieges von den deutschen Besatzern ermordet wurden.

Es klingt absurd: Auch diejenigen, die den Obelisk 1946 aufstellten, mussten leiden. In Stalins Diktatur wurden sie ins Arbeitslager geschickt. Und so machte man in Minsk lange Zeit einen Bogen um die Geschichte des Holocaust im eigenen Land.

Maja Levina-Krapina hat als Kind das Minsker Getto überlebtBild: DW

Nicht so Maja Levina-Krapina: Sie kommt oft zu der Grube, um ihrer Mutter zu gedenken. Sie wurde auf dem Jubilejnaja-Platz in Minsk erhängt, in eine Grube geworfen und verscharrt. Levina-Krapina war damals sechs Jahre alt. Heute leben noch rund 40 der damaligen Bewohner des Minsker Gettos, die 77jährige Jüdin Maja Levina-Krapina ist eine von ihnen.

Ein Kind des Minsker Gettos

Kurz nach der Besetzung von Minsk durch die deutsche Wehrmacht, im Juli 1941, errichteten die Nazis das Getto: Alle 70.000 Minsker Juden wurden auf einem gerade mal zwei Quadratkilometer großen Gebiet zusammengepfercht. Insgesamt gab es 160 Gettos auf belarussischem Territorium, das von Minsk war das größte.

"Als wir unser Haus verließen, hat die Mutter uns Kindern alle Sommer- und Wintersachen angezogen, die wir hatten", erinnert sich Maja Levina-Krapina. Ihrer ganzen Familie, acht Menschen, wurde ein Zimmer zugeteilt. Der Großvater, die Mutter und der 14-jährige Bruder wurden täglich zur Zwangsarbeit abkommandiert. Maja und ihre drei Schwestern blieben mit der Großmutter zuhause.

Im Getto gab es keine Geschäfte, nichts zu kaufen. "Wir aßen Matzen, ungesäuertes Fladenbrot, und Salz, das wir von zuhause mitgenommen hatten. Im Sommer kochte Mutter Suppe aus Unkraut", erzählt Levina-Krapina. Allen Getto-Bewohnern wurde ein runder gelber Flicken auf Brust und Rücken genäht. Die Erwachsenen trugen zudem ein weißes Band, auf dem Straße und Hausnummer zu lesen waren.

Der jüdische Friedhof auf dem Territorium des Minsker GettosBild: DW

Der erste Pogrom fand am 7. November 1941 statt. Zahllose Menschen wurden ermordet. Die Familie von Maja Krapina rettete sich in ein Versteck. Am nächsten Tag begriffen die Menschen im Getto, welches Ziel die NS-Schergen im Sinn hatten: Die Einheimischen mussten weichen, denn am 8. November 1941 wurden Juden aus Hamburg mit dem Zug hergebracht. Die ersten von vielen: Insgesamt wurden mehr als 26.000 Juden aus Deutschland, Österreich und Tschechien ins Minsker Getto deportiert.

Systematische Vernichtung

Vor dem Zweiten Weltkriegs lebten 940.000 Juden in Belarus. Rund 800.000 wurden während des Kriegs ermordet", sagt Historiker Kuzma Kozak aus Minsk. Bei der Vernichtung seien die Nazis systematisch vorgegangen. Mit jedem Pogrom wurde die Zahl der Getto-Insassen dezimiert, bis das Getto im Oktober 1943 komplett aufgelöst wurde. Dann wurde Belarus für "judenfrei" erklärt.

Kuzma Kozak leitet die Geschichtswerkstatt MinskBild: DW

Einigen Getto-Häftlingen gelang es, dem Tod zu entrinnen. So auch Maja Levina-Krapina. Ihr inzwischen 16-jähriger Bruder rettete eine Gruppe aus rund 40 Kindern. "Beim Morgengrauen verließen wir das Getto. Wir gingen drei oder vier Tage lang. Ich konnte mich kaum mehr auf den Beinen halten. Die Burschen trugen mich auf den Händen, das hatte ihnen mein Bruder befohlen", sagt Maja Levina-Krapina. Schließlich kamen die Kinder ins Dorf Poretschje. Dort befand sich eine Stellung von Partisanentruppen. Maja und die anderen Kinder wurden auf die Familien des Dorfes verteilt, die sie aufpäppelten.

Wie der Holocaust in Vergessenheit geriet

In Belarus war der Holocaust lange Zeit ein Fremdwort. Die sowjetischen Historiker verbreiteten lieber offizielle Heldenepen über den Sieg gegen die Hitler-Faschisten im sogenannten Großen Vaterländichen Krieg. Von den Opfern sprach man nicht - und wenn, dann vom Völkermord an der sowjetischen Bevölkerung unter deutscher Besatzung. Der in der Sowjetunion latent vorhandene Antisemitismus ließ keinen Raum für das Gedenken an die massenhafte Ermordung der Juden.

Maja Levina-Krapina berichtet über ihre Erlebnisse im Minsker Getto

02:27

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Auch die Riege der internationalen Forscher richtete ihren Blick selten auf Belarus. Für deutsche Historiker galt das Land als Teil der Sowjetunion und damit als Kriegsschauplatz und weniger als Ort des Genozids an den Juden Europas.

Was ebenfalls nicht in den Geschichtsbüchern auftaucht: In der Umgebung von Minsk befand sich das größte NS-Vernichtungslager auf dem Gebiet der Sowjetunion: In Trostenez wurden nach verschiedenen Angaben zwischen 60.000 und 200.000 Menschen erschossen oder vergast: Juden, Kriegsgefangene, Partisanen, aber auch Bürger, denen Verbindungen zum Widerstand zur Last gelegt wurden. "Heute befinden sich dort ein paar beschauliche Obelisken und eine Müllhalde", sagt Historiker Kozak.

Alexandra Borisowa hat die Lager in Witebsk, Majdanek und Auschwitz überlebtBild: DW

Die Auschwitz-Überlebende

Die Eltern der damals sechsjährigen Alexandra Borisowa aus einem Dorf bei Witebsk halfen angeblich Partisanen. Dafür musste die belarussische Familie bitter büßen. Die deutschen Besatzer brachten sie zuerst in ein Stammlager ins belarussische Witebsk, dann nach Majdanek im besetzten Polen und weiter nach Auschwitz. Im Lager wurde Alexandra Borisowa schwer krank, überlebte, was heute wie ein Wunder erscheint. Ihre Mutter versteckte sie auf den oberen Pritschen der Etagenbetten, damit sie nicht in die Krankenbaracke kam. Denn dort drohte der sichere Tod, weil die Schwachen selektiert und in den Tod geschickt wurden.

Der 27. Januar 1945, der Tag der Befreiung des KZ Auschwitz durch die Rote Armee, ist für Alexandra Borisowa wie ein zweiter Geburtstag. Doch die Schatten lassen sie nicht los. "Hundegebell, Schreie, Peitsche, Scheinwerfer, Sirenenalarm", das alles ist ihr ins Gedächtnis eingebrannt, erinnert sich die Frau mit weißen Haaren, leiser Stimme und traurigem Blick.

Der 27. Januar 1945 ist für Alexandra Borisowa ein zweiter Geburtstag

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Sie fühlt sich von den deutschen Politikern vernachlässigt. "Es ist bedauernswert, dass nicht alle Nazi-Opfer von Deutschland gleich behandelt werden. Wir würden auch gerne eine finanzielle monatliche Hilfe bekommen", sagt die 76-Jährige. Jüdische Überlebende von Konzentrationslagern können eine monatliche Rente von 300 Euro beantragen. Alexandra Borisowa ist keine Jüdin und kann daher keine Ansprüche geltend machen, muss mit ihrer kargen belarussischen Rente auskommen.

Die Aufarbeitung der Geschichte

Rund zehn Jahre ist es her, dass man in Belarus begonnen hat, den Holocaust aufzuarbeiten. Damals entstand die Geschichtswerkstatt Minsk, die vom Internationalen Bildungs- und Begegnungswerk, kurz IBB, aus Deutschland finanziell unterstützt wird. Sie befindet sich in einem Wohnhaus mit weißen Wänden und gelben Fensterrahmen auf dem Territorium des früheren Getto. Im Büro des Leiters der Geschichtswerkstatt, Kuzma Kozak, sind überall Bücher zu sehen: im Regal, auf dem Tisch und auf den Stühlen. Der Historiker scheint besessen, die Geschichten der Holocaust-Überlebenden zu dokumentieren. "Die Erforschung des Holocaust beginnt bei uns zu einer Zeit, wo es fast keine überlebenden Opfer mehr bei uns vor Ort gibt. Unsere Zeitzeugen sind überall in der Welt verstreut", sagt er.

Die Geschichtswerkstatt Minsk befindet sich in einem ehemaligen Wohnhaus auf dem Territorium des Minsker GettosBild: DW

Dank der Geschichtswerkstatt konnte Maja Krapina ihr autobiografisches Buch herausgeben. Es erschien 2012 in deutscher Übersetzung unter dem Titel "Die dreifach Wiedergeborene". "Nach dem Krieg habe ich die Deutschen gehasst", sagt sie. Damals hätte sie sich nicht vorstellen können, dass sie später einmal in Deutschland durch eine Augenoperation vor der Blindheit gerettet werden würde. Als Krapina vor ein paar Jahren in deutschen Schulen über die Erlebnisse ihrer Kindheit erzählte, weinten die Kinder mit ihr. "Mein Verhältnis zu den Deutschen hat sich sehr stark gewandelt", sagt die 77-Jährige. Doch das, was im Getto geschah, ist ihr immer präsent.

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