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Politik

Luxusbau auf jüdischem Massengrab

Emily Sherwin pgr
28. März 2019

Im weißrussischen Brest sind die Überreste von über tausend Holocaust-Opfern entdeckt worden. Statt eines Denkmals will die Stadt dort einen Wohnkomplex errichten. Unterdrückt Brest seine Geschichte?

Weißrussland Brester Massengrab
Bild: Evgeny Sergienko

Mit Handschuhen und Schaufeln arbeiten sich die jungen Soldaten durch die Erde. Sie ziehen schwarz-gefärbte Knochen, Schädel und Teile von Schuhen heraus, legen sie auf den Boden und zählen die Fragmente. Die Grabungsstätte wirkt wie eine große Wunde im Zentrum der Stadt. Nach rund zwei Monaten nähert sich die Ausgrabung dem Ende. Insgesamt hat das Sondersuchkommando der Armee Überreste von 1190 Menschen gefunden. Das melden die Behörden in Brest, einer weißrussischen Stadt an der Grenze zu Polen.

Arbeiter hatten die ersten Knochen Mitte Januar entdeckt, als sie eigentlich das Fundament für einen Wohnungsblock im historischen Zentrum der Stadt legen wollten. Zwischen Dezember 1941 und Oktober 1942 war dieser Stadtteil ein jüdisches Ghetto. Anschließend räumten die Nazis das Gebiet und erschossen mehr als 15.000 Juden in einem Wald nordöstlich der Stadt. Tausende Menschen richteten sie zudem innerhalb des Ghettos hin. "Zu sehen ist das Ergebnis eines schrecklichen Kriegs und Völkermords", sagt der Kommandant der Sucheinheit, Major Pavel Galetsky. "Die Geschichte spricht für sich selbst."

Sonderkommando mit Schaufeln: Die Überreste von 1190 Menschen lagen verschüttet unter der ErdeBild: DW/E. Sherwin

Doch die Geschichte scheint verschiedenen Menschen unterschiedliche Dinge zu sagen. Lange Zeit war unklar, was mit dem Gebiet passieren würde, sobald die Ausgrabungen beendet sind. Jetzt hat das Büro des Bürgermeisters entschieden, dass die Bauarbeiten in dieser Woche wieder beginnen werden. Das geplante Wohngebiet ist ein lukratives Projekt: Ein Quadratmeter kostete Ende vergangenen Jahres rund 1100 Euro, sagt ein Vertreter der Baufirma der DW. Das ist fast das Doppelte des aktuellen Durchschnittspreises für Grund in der Stadt.

Eine Stadt "erbaut auf Knochen"

Schon Wochen vor dem Ende der Ausgrabungen haben lokale Behörden darauf gepocht, dass ein moderner Apartmentkomplex genau das Richtige für die Innenstadt sei. Alla Kondak, Leiterin der Kulturabteilung im Rathaus, sagt, dass die Stadt kein weiteres Denkmal brauche. Gleich um die Ecke steht bereits ein kleiner Stein aus Marmor, der an die 34.000 Juden erinnert, die im Zweiten Weltkrieg in und um Brest ermordet wurden.

"Es sollte einen Ort geben, an dem Menschen gut leben können - eine schöne Ecke für die Stadt Brest", sagt Kondak und erklärt, dass früher an dieser Stelle kleine heruntergekommene Häuser standen. Die Behörden und die Baufirma betonen, dass das Fundament der Gebäude nicht genau an der Fundstelle der menschlichen Überreste entstehen wird. Laut der offiziellen Pläne wird das Massengrab unter einem Hof liegen. Und wahrscheinlich wird an dem Gebäude eine Gedenktafel angebracht werden, argumentieren Mitarbeiter des Bürgermeisters.

Wohnhäuser oder Denkmal: Eine Baustelle mit historischer BedeutungBild: Andrei Mareiko

Kondak erklärt auch, dass es nicht das erste Mal sei, dass Bauarbeiten solche Überreste zutage förderten. "Als die umliegenden Gebäude gebaut wurden, haben sie auch Knochen gefunden" sagt sie und zeigt auf einen Gebäudekomplex neben der Baustelle. Von dort ruft später eine Frau aus dem Fenster, dass die gesamte Stadt "auf Knochen erbaut" sei.

"Dieser Fund schreit uns an"

Für die Historikerin Irina Lavrovskaya erzählen die Knochen eine andere Geschichte. "Dieser Fund schreit uns regelrecht an, dem Boden unter dieser Stadt die nötige Aufmerksamkeit zu geben", sagt sie. Seit Monaten setzt sich Lavrovskaya dafür ein, die Bauarbeiten auf dem Areal zu stoppen. Sie hat eine große Gedenkstätte an dieser Stelle vorgeschlagen. Die Entscheidung, die Arbeiten fortzusetzen, sei "erschütternd und schmerzhaft".

Irina ist nur ein paar Straßen weiter aufgewachsen. Die 68-jährige Akademikerin arbeitet an einem Buch über das mittelalterliche Brest, in dem sie akribisch alle Gebiete der Stadt beschreibt, die es heute nicht mehr gibt - zum Beispiel die jüdischen Viertel.

"Menschen sollten nicht dort leben, wo einst eine Massenhinrichtung stattgefunden hat. Der Schmerz besteht bis heute weiter", sagt sie. "Ich sehe all diese historischen Ebenen, diese verschiedenen Epochen. Wenn man die Symptome einer Krankheit nicht heilt, werden sie irgendwann wieder zum Vorschein kommen", warnt sie. "Das Gleiche wird immer und immer wieder passieren."

Verwischte Spuren

Brest hat eine lange und oft schmerzhafte jüdische Geschichte. Vor dem Zweiten Weltkrieg war mehr als die Hälfte der Bevölkerung Juden. Nur eine Handvoll überlebte die Massenhinrichtungen der Nazis. Heute steht in Brest nicht mal mehr eine Synagoge. Sowjets haben das alte Gebetshaus im Jahr 1959 zu einem Kino umgebaut. Auf einem jüdischen Friedhof entstand eine Sportanlage.

Historikerin Irina Lavrovskaya: "Geschichte wird sich wiederholen"Bild: Evgeny Sergienko

Aber auch heute kümmern sich die weißrussischen Behörden wenig um das jüdische Leben. Regina Simonenko ist Vorsitzende der jüdischen Gemeinde in Brest. Jahrelang forderte sie ein Denkmal aus jüdischen Grabsteinen, die bei Bauarbeiten im Jahr 2014 gefunden wurden.

Die Gemeinde hat mehrere Kellerräume angemietet, in denen sie regelmäßig freitags zum Sabbatsegen zusammenkommt. Regina Simonenko äußert sich sowohl leidenschaftlich als auch rational über den jüngsten Fund von jüdischen Überresten, den die Stadt demnächst wieder begraben möchte: "Auf dem gesamten Gebiet des ehemaligen Ghettos wurden Menschen erschossen", sagt sie und richtet dabei ihre rote Brille. "Es ist wahrscheinlich nicht möglich, das gesamte Gebiet zu einem Friedhof zu machen."

Aber auch sie fordert eine Gedenktafel am neuen Gebäudekomplex und legt der Stadt nahe, die Verantwortung für jüdische Opfer des Holocaust nicht nur auf die jüdische Gemeinde abzuschieben, sondern sie als Bürger Brests zu würdigen.

Lehren der Vergangenheit

Irina Lavrovskaya stimmt zu. Sie denkt, dass die Behörden in Weißrussland die Lektionen der Vergangenheit nicht gelernt hätten. Die Opposition im Land ist regelmäßig politischem Druck und Repressionen ausgesetzt. Kritiker bezeichnen das Land als "Europas letzte Diktatur". Lavrovskaya selbst hat sich immer gegen die Darstellung der Behörden gewandt. 1999 hat sie wegen ihrer oppositionellen Haltung ihren Job an der Universität verloren.

Die Massengräber warnten künftige Generationen vor autoritären Regimes, sagt sie: "Diese Menschen wurden getötet, weil sie einen bestimmten ethnischen Hintergrund hatten. Es war eine Trennung der Gesellschaft in verschiedene 'Arten'. Welche 'Art' wird wohl als nächstes ausgewählt, um sie dann zu zerstören? Wir wissen es nicht."

Darum möchte Lavrovskaya, dass die Geschichte öffentlich diskutiert wird - auch wenn es schmerzhaft ist. Und sie möchte auch, dass die neue Ausgrabungsstätte für die Öffentlichkeit zugänglich bleibt. Die Baufirma plant bisher eine sogenannte gated community, also eine Wohngemeinschaft mit streng kontrolliertem Zutritt. "Ich werde mich nicht in den Weg der Bulldozer legen", erklärt Irina mit einem dunklen Lachen. "Aber ich werde im Auge behalten, was da passiert."

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