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Deutsche Jugend zwischen Selbstbestimmung und Verführung

Sarah Judith Hofmann 2. Oktober 2013

Sie rebellierten gegen die Eltern, wollten frei leben, in Einklang mit der Natur. Vor hundert Jahren feierte die "Freideutsche Jugend" ihre neue Lebensart. Wenig später zog sie in den Ersten Weltkrieg.

Gemälde "Wandervögel" von Otto Höger. Ausstellung: Aufbruch der Jugend (Foto: Hamburger Kunsthalle)
Bild: Hamburger Kunsthalle

Es gibt dieses Bild, das die ganze Tragik der Jugend im zwanzigsten Jahrhundert ausdrückt: Ein junger Mann steht auf einem Felsvorsprung, nackt breitet er seine Arme aus, gen Himmel. Der Betrachter sieht seine langen blonden Haare nur von hinten. "Lichtgebet", gemalt von Hugo Höppner alias Fidus. Um 1900 wurde es zur Ikone einer neuen Bewegung: der Jugendbewegung. Noch ist sie unschuldig wie der nackte Jüngling. Doch die weit geöffneten Arme, so wird sich noch zeigen, verheißen nichts Gutes.

"Lichtgebet": Hier in einer Version von 1922Bild: VG Bild-Kunst, Bonn 2013

Hunderte Postkarten mit dem Motiv werden allein für das zweite Oktoberwochenende im Jahr 1913 gedruckt. Denn zu diesem Zeitpunkt versammeln sich auf dem hohen Meißner bei Kassel mehrere tausend Jugendliche: Männer und Frauen spielen Gitarre, singen gemeinsam Volkslieder am Lagerfeuer und manifestieren damit ihre neue Naturverbundenheit. Auf dem Land wollen sie leben, in zwangloser Kleidung, keinen Alkohol trinken, nicht rauchen, vegetarisch essen. Sehr postmodern kommt einem das heute vor. Damals ist es eine Rebellion gegen das meist bürgerliche Elternhaus und den militärischen Drill in Schule und Staat.


Das Jahrhundert der Jugend

Einhundert Jahre ist dieser "Erste Freideutsche Jugendtag" her. Aus diesem Anlass zeigt das Germanische Nationalmuseum Nürnberg eine Ausstellung über die Geschichte der deutschen Jugendbewegung. Von den Anfängen um 1900 zur Täuschung der Jugend, die begeistert in den Ersten Weltkrieg zieht. Von der Zwangseingliederung in die Hitlerjugend zu den Versuchen, nach dem Zweiten Weltkrieg wieder an die ursprünglich freiheitlichen Ideale der Jugendverbände anzuknüpfen.

"Im ausgehenden 19. Jahrhundert wurde der Begriff 'Jugend' zum ersten Mal in der Geschichte als eigenständiger Lebensabschnitt gesehen", erklärt die Kuratorin der Ausstellung Claudia Selheim. "Jugend hatte Hochkonjunktur". In der Kunst wird der jugendliche Akt zum Sinnbild der Natürlichkeit und Vitalität, neue Zeitschriften wie "Die Jugend" entstehen. In Architektur und Design ist der "Jugendstil" prägend und auch in der Politik verdrängen die Jungen die Alten: 1890 entlässt der 31-Jährige Kaiser Wilhelm II. den 75-jährigen Otto von Bismarck als Reichskanzler.

Das 20. Jahrhundert wird das "Jahrhundert der Jugend" werden. Die Bevölkerung um 1900 ist außergewöhnlich jung. Deutschland erlebt einen bis dahin ungekannten Modernisierungsschub. Die Jugendbewegung sieht die Industrialisierung und das Wachsen der Städte kritisch, will sich in die Natur zurückziehen, betreibt frühen Umweltschutz.

Zeichen der Wandervögel: der Kranich, der in die Ferne fliegtBild: Archiv der deutschen Jugendbewegung


Mit Gitarre und Wanderrucksack in die Ferne

Die "Wandervögel" gelten heute als Ursprung dieser Bewegung: eine Gruppe von Berliner Gymnasiasten, die seit 1896 selbst organisierte Wanderungen unternimmt. Nicht nur in Deutschland, bis nach Griechenland und Schweden reisen die Jugendlichen. Der Kranich wird zu ihrem Symbol – der Aufbruch in die Ferne.

Doch aus dem Wandern wird Marschieren: Viele Anhänger der "Wandervögel" und anderer freier Jugendverbände ziehen jubelnd in den Ersten Weltkrieg. Wie passt das zusammen? Die Ideale waren doch freiheitlich-friedlich. Oder hat die "Freideutsche Jugend" mit ihren Liedern, Fahnen und dem neuen Gemeinschaftsgefühl gar den Ersten Weltkrieg vorbereitet?

"Vorbereitet haben sie ihn nicht", sagt Selheim. "Aber sie sind mitgezogen - und zwar massiv. Sie haben diesen Ersten Weltkrieg als große Fahrt interpretiert. Sie glaubten sogar, andere Kameraden von ihren Idealen der Selbstbestimmung überzeugen zu können. Aber dazu kam es nicht." Hunderttausende junger Soldaten sterben auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs, darunter auch viele ehemalige "Wandervögel". Es ist die erste große Zäsur in der deutschen Jugendbewegung.


Vom Pfadfinder zum Hitlerjungen

Doch es sollte noch schlimmer kommen. 1934 werden alle Jugendbünde – von den Nachfolgern der "Wandervögel" bis zu den Pfadfindern – der Hitlerjugend (HJ) eingemeindet. Die Jugendorganisationen der Nationalsozialisten knüpfen bewusst an das bereits bekannte Modell an. Der 90-jährige Gustav Roeder erinnert sich: "Eines Abends sind wir in die Turnhalle gerufen worden und da hat uns die HJ empfangen mit unter das Kinn geschobenen Sturmriemen und dann haben unsere Führer eine patriotische Ansprache gehalten und gesagt: Ab heute bestehen wir nicht mehr, sondern sind in die Hitlerjugend aufgenommen."

Pflichtprogramm der nationalsozialistischen Jugend: "Der Hitlerjunge Quex"Bild: DW/S.Hofmann

Roeder war mal Chefredakteur der Nürnberger Zeitung. In die Ausstellung ist er gekommen, um zu berichten. Das macht er auch heute noch ab und zu. Aber diesmal ist es etwas anderes. Er fühle sich sehr an seine Jugend erinnert, sagt er. "Gleichschritt ist auch unter den evangelischen Pfadfindern geübt worden. Aber eben auch Feuer machen, Würste braten und solche Dinge. Das hat mir sehr gut gefallen, die Pfadfinderzeit".

Die Propaganda des NS-Regimes versuchte geschickt daran anzuknüpfen: Fahnenträger, gemeinschaftliche Lieder, Krieg spielen verpackt als Abenteuer. "Der Bruch war ein schleichender", meint die Kuratorin Selheim. "Viele junge Menschen glaubten, unter der Hitlerjugend weiterhin ihren eigenen jugendbündischen Stil leben zu können. Aber sie sind eines Besseren belehrt worden."


Kultobjekt im Setzkasten

"Als mein Bruder gestorben ist, gefallen in Russland, da hab ich mit der Geige im HJ-Orchester spielen müssen: 'Die Fahne ist mehr als der Tod'. Es war ungeheuer", sagt er. "Mir sind die Tränen gekommen und mir kommen noch heute die Tränen. So ein Quatsch!"

Die neuen Wandervögel: Das Musik-Festival auf Burg Waldeck fand von 1964 bis 1969 jährlich stattBild: Arbeitsgemeinschaft Burg Waldeck e.V., Archiv

Mit den Nationalsozialisten findet die freiheitliche und selbstbestimmte Jugendbewegung in Deutschland ein Ende. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wird in der Bundesrepublik versucht, an alte Ideale anzuknüpfen. 1964 treffen sich auf Burg Waldeck junge Menschen, um für eine neue freie Zukunft im Einklang mit der Natur zu streiten und - wie ihre Vorgänger - zu singen: Das erste Open Air Festival der Bundesrepublik Deutschland. In der DDR verweist der Name der Jugendorganisation "Freie deutsche Jugend" (FDJ) auf die Generation der "Freideutschen Jugend". Hier werden erneut Fahnen geschwungen und Lieder auf den Staat gesungen. Selbstbestimmt war diese Jugend nicht.

Am Ende der Ausstellung steht ein Regal, das aussieht wie ein überdimensionierter Setzkasten. Darin: Die Jugendzeitschrift "Bravo", Schallplatten, ein Skateboard. Viele Fächer sind noch leer. Die Besucher der Ausstellung sollen ihre Erinnerungsobjekte an die eigene Jugend als Leihgabe oder Schenkung abgeben. Es sind Kultobjekte, wie es einmal die Postkarten und Plakate des "Lichtgebets“ waren. Gustav Roeder fasziniert es bis heute.

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