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Aufgewachsen im Überwachungsstaat DDR

18. März 2012

Die Arbeit der Stasi-Mitarbeiter prägte den Alltag der ganzen Familie. Besonders die Kinder litten unter der Geheimhaltung, dem Klima des Misstrauens und der Kontrolle. Ein Interview mit der Buchautorin Ruth Hoffmann.

Außenansicht von Haus 1, dem ehemaligen Mielke-Amtssitz in der Stasi-Zentrale der DDR in der Normannenstraße in Berlin (Foto: dpa)
Bild: picture-alliance/dpa

"Schild und Schwert der Partei" nannte sich die DDR-Staatssicherheit. 1950 nach dem Vorbild der sowjetischen Geheimpolizei Tscheka gegründet, wurde sie von Anfang an als Unterdrückungsapparat gegen vermeintliche Feinde des Staates beziehungsweise der Einheitspartei SED eingesetzt. Die hauptamtlichen Mitarbeiter bildeten dabei eine geschlossene Gesellschaft in der Gesellschaft: Sie lebten in eigenen Wohnvierteln, hatten Privilegien wie überdurchschnittliche Bezahlung, betriebseigene Läden, Ärzte, Kliniken und Ferienheime. Auch bei der Autovergabe wurden sie bevorzugt. Sie observierten, kontrollierten und schikanierten - und wurden ihrerseits ständig überwacht. In vielen Gesprächen mit Betroffenen hat die Journalistin Ruth Hoffmann herausgefunden, wie sehr gerade die Kinder unter diesem Leben gelitten haben - und wie es sie bis heute geprägt hat.

Deutsche Welle: Von den hauptamtlichen Mitarbeitern der Staatssicherheit wurde absolute Linientreue erwartet. Was hat das für die Familien, insbesondere für die Kinder im Alltag bedeutet?

Ruth Hoffmann: Für die Kinder hieß das letztlich, dass sie dieses linientreue Verhalten ungefragt mittragen mussten. Denn alles, was sie verbockten, konnte auch auf die Eltern zurückfallen. Sie mussten im Sinne der Eltern, im Sinne des Systems funktionieren. Ganz konkret bedeutete das zum Beispiel, dass sie nach außen sagen mussten: 'Mein Vater arbeitet beim Ministerium des Innern.' Eine verordnete Lüge, von der sie oft noch nicht einmal wussten, dass es eine Lüge war. Denn die Arbeit des Vaters war zu Hause tabu, darüber wurde nicht gesprochen: Also Geheimniskrämerei und Lüge nach außen wie nach innen.

Die Journalistin Ruth Hoffmann, Autorin des Buches "Stasi-Kinder"Bild: Odile Hain

Was bedeutete das in der Schule? Die Lehrer wussten doch vermutlich Bescheid über die Legende des Arbeitsplatzes.

Ich denke, dass der Code bekannt war. Letztlich war es ja auch nichts Ehrenrühriges, bei der Stasi zu sein. Das war ja eine Organisation, die ganz wichtig für diesen Staat war - und gerade die Lehrer gehörten ja auch zu diesem Staat.

Die Väter lebten in einem System von Befehl und Gehorsam. Haben sie das an die Kinder weitergegeben?

In den allermeisten Fällen war es wohl so. Die meisten Gesprächspartner haben berichtet, dass es Regeln für alles gab. Selbstverständlich mussten sie die gesellschaftlichen Pflichten erfüllen, Pionier werden, zur FDJ gehen (die Jugendorganisation der DDR; die Red.), später sollten sie dann möglichst auch in die Partei eintreten. Für die Mitarbeiter war es wichtig, die Familie auf Linie zu halten, denn für sie gab es im Grunde keine wirkliche Trennung zwischen Beruf und Privatleben. Sie wurden komplett durchleuchtet durch ihren Dienstherrn. Schon die Auswahl der Mitarbeiter wurde ganz akribisch betrieben. Da gab es vorweg Erkundigungen über das Wohnumfeld, über Freunde, die Partner und das Freizeitverhalten. Und das wurde, wenn sie dann Mitarbeiter geworden waren, laufend überprüft und betraf eben auch die Familie. Da wurde auch überprüft, ob die Ehefrau wirklich keinen Kontakt mehr zu ihrer Tante aus München hat.

Kann unter diesen Umständen die Familie für Kinder überhaupt noch ein Schutzraum sein?

Es gab für die Kinder die Erfahrung, selbst zu Hause auf der Hut sein zu müssen. Das wurde ihnen von ihren Eltern und im Alltag vermittelt.

Es gab einen Betroffenen in Ihrem Buch, der beklagt hat, dass "Korpsgeist" Vorrang vor der eigenen Familie hatte. In einigen Fällen haben Väter sogar ihre eigenen Söhne denunziert.

Bild: Ullstein

Ich habe viele Fälle und Dokumente gefunden, wo die Väter zu ihren Vorgesetzten zitiert wurden, um sich für ihre Kinder zu rechtfertigen, weil die sich zum Beispiel in der Punkszene oder in der Friedensbewegung aufgehalten haben. Und manche sind dann in vorauseilendem Gehorsam soweit gegangen, ihre Kinder zu verraten, indem sie Meldung gemacht haben.

Ich habe zwei Fälle in dem Buch, wo die Väter sich regelrecht von ihren Kindern losgesagt haben. Im Fall Stefan Herbrich (Name geändert) zum Beispiel. Stefan Herbrich hat in seinem Betrieb eine etwas kritische Wandzeitung gemacht, ohne großen oppositionellen Anspruch, also eigentlich gar nichts Dramatisches. Aber er ist dafür ins Gefängnis gekommen. Sein Vater hat daraufhin hochoffiziell erklärt: 'Das ist nicht mehr mein Sohn, ich habe keinen Kontakt mehr zu ihm.' Und aus den Akten geht hervor, wie auch das Ministerium für Staatssicherheit auf die Einhaltung dieses Versprechens gedrungen und das auch kontrolliert hat.

Was ich mich beim Lesen Ihres Buches gefragt habe: War die Stasi eigentlich eine Anlaufstelle für seelisch-emotionale Krüppel - oder sind die hauptamtlichen Mitarbeiter es erst dort geworden? Anders gesagt: War eine bestimmte Persönlichkeitsstruktur Einstellungs-Voraussetzung?

Da traue ich mir ein Urteil nicht zu. Aber ich habe mich das natürlich auch gefragt: Machte der Job die Eltern zu dem, was sie waren oder umgekehrt? Ich habe deshalb mit Professor Harald J. Freyberger von der Universität Greifswald gesprochen, der sich als Psychiater mit dem Thema befasst hat. Er hatte Kinder von hauptamtlichen Mitarbeitern in Behandlung und auch ehemalige Mitarbeiter selbst. Und der sagt 'ja', es müsse eine gewisse Persönlichkeitsstruktur gegeben haben. Um diesen Job machen zu können, musste man schon eine Bereitschaft haben.

Trotzdem hat es natürlich nicht die typische Stasi-Familie gegeben, wie Sie zu Recht betonen. Es haben auch nicht alle in der DDR gelebt. Pierre Guillaume etwa, der Sohn von Günther Guillaume, dem Spion im damaligen Kanzleramt von Willy Brandt, ist in Bonn in einer sehr konservativen Atmosphäre aufgewachsen. Als seine Eltern enttarnt wurden - beide haben in diesem Fall für die Stasi gearbeitet - brach für ihn eine Welt zusammen. Die meisten Kinder mussten eine ungeheure Enttäuschung verarbeiten, weil ihre Väter nicht diejenigen waren, für die sie sie gehalten haben (ich sage bewusst 'Väter', denn die hauptamtlichen Mitarbeiter waren in der Regel Männer). Konnten sie denn nach der Wende wenigstens mit ihnen darüber sprechen?

Ruth Hoffmann erzählt die Geschichte von Pierre Guillaume - MP3-Mono

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Richtig, fast 84 Prozent waren Männer. Die wenigen Frauen, die es dort gab, haben hauptsächlich als Reinigungskräfte und Sekretärinnen gearbeitet, spielten also eher eine geringe Rolle.

Nein, auch nach dem Mauerfall konnten die Kinder nicht mit ihren Vätern sprechen. Die haben durch die Bank das Gespräch verweigert. Ich glaube, das ist die eigentlich große Verletzung, dass dieses Schweigen sich fortgesetzt hat, auch dann, als es gar nicht mehr nötig war. Es gab ja nach dem Mauerfall keinen Grund mehr, irgendetwas geheim zu halten. Und nach meinen Recherchen sind die 'Kinder' - natürlich sind sie da längst erwachsen gewesen - gar nicht mit dem Anspruch an die Eltern herangetreten, dass die sich jetzt rechtfertigen müssen. Sie wollten einfach Antworten auf ihre Fragen, sie wollten schlicht Informationen.

Ist das der Grund, warum ein Buch wie das Ihre erst jetzt, über 20 Jahre nach dem Mauerfall, erscheinen konnte? Dass diese 'Kinder' sich selbst erstmal darüber klar werden mussten, was da passiert ist?

Ja, ich glaube, diese Dinge brauchen ihre Zeit. Es war auch wirklich schwer, dieses Buch zu schreiben. Es war schwer, Gesprächspartner dafür zu finden, weil es ja hier um sehr persönliche Dinge geht. Und wie auch immer man zu den Eltern steht - es sind ja doch die Eltern.

Das Gespräch führte Gabriela Schaaf
Redaktion: Claudia Unseld

Ruth Hoffmann: Stasi-Kinder. Aufwachsen im Überwachungsstaat. Ullstein/Propyläen 2012. 317 Seiten mit Abb. 19,99 Euro; ISBN-13: 9783549074107

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