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PolitikUkraine

Cherson: Rettungsaktionen unter Beschuss

Igor Burdyga
10. Juni 2023

In den Fluten des zerstörten Kachowka-Stausees kämpfen Menschen ums Überleben. Russische Truppen erschweren die Evakuierung durch Beschuss. Igor Burdyga hat die ersten drei Tage in der Großstadt Cherson miterlebt.

Zwei Männer fahren in einem Schlauchboot mit Außenbordmotor durch eine überflutete Straße
Ganze Stadtteile von Cherson sind nur noch mit dem Boot zu erreichenBild: Igor Burdyga/DW

Morgen des 6. Juni: Der Stausee läuft aus

Die Welt erfährt von der Zerstörung des Wasserkraftwerks im Kachowka-Staudamm. Das Ende der 1950er Jahre errichtete Bauwerk wurde seit Beginn der russischen Invasion in der Ukraine im Februar 2022 von Kreml-Truppen kontrolliert. Kiewbezichtigt die Besatzer, das Kraftwerk in der Nacht gesprengt zu haben, Moskauerhebt den umgekehrten Vorwurf.

Klar scheint: Mehrere Explosionen haben große Löcher in die bis zu 37 Meter hohe Staumauer gerissen. Der Pegel des riesigen Kachowka-Stausees sinkt rapide, enorme Wassermassen überschwemmen die umliegenden Gebiete am Unterlauf des Flusses Dnipro und strömen auf die 50 Kilometer flussabwärts liegenden Stadt Cherson zu.

Morgen des 7. Juni: Fassungslose Bewohner

Dutzende fassungslose Einwohner von Cherson stehen unter dem Denkmal für die Toten des Zweiten Weltkriegs und sehen zu, wie der Dnipro riesige Pappeln in Richtung Schwarzes Meer spült. Auch zwei von der Strömung losgerissene Lastkähne treiben vorbei.

Die Granittreppen, die von der Uferböschung zum Denkmal hinaufführen, haben jahrzehntelang als Veranstaltungsort für Open-Air-Konzerte gedient. Jetzt sind die unteren drei Absätze überflutet und das Wasser steigt weiter.

Die Gesichter der Stadtbewohner, die acht Monate russische Besatzung und ein halbes Jahr Beschuss an der Front überlebt haben, sind vollkommen ratlos und verwirrt - ein solches Bild hat sich ihnen noch nicht geboten.

Die Freitreppe unterhalb des Weltkriegsdenkmals in Cherson ist teilweise überflutetBild: Igor Burdyga/DW

Maksym, ein Mann in den Vierzigern, sagt, eine mögliche Zerstörung des Staudamms sei seit langem Gesprächsthema in Cherson: "Das letzte Mal gab es große Panik im Jahr 2000, als alle Angst vor einem Computerausfall aufgrund des Jahr-2000-Problems hatten", sagt Maksym. IT-Experten hatten gewarnt, dass es zum Jahrtausendwechsel weltweit Computerabstürze geben könne; relevante Probleme blieben jedoch aus. "Damals wurde viel von einem Tsunami gesprochen, die Ingenieure erklärten, dass nur die niedrig gelegenen Viertel von Cherson überflutet würden."

Nichts dergleichen geschah. Nun aber, sagt Maksym, habe er einen Mitarbeiter des örtlichen Stromversorgers zu Gast gehabt, dessen Haus im Vorort Komyschany bereits am Tag davor überschwemmt worden sei.

"Nein, nein, es gab so etwas", korrigiert die 78-jährige Maria Maksym. "Ich war damals fünf, glaube ich, sagt sie und beginnt zu zittern bei der Erinnerung. Ihr Sohn Ihor willigt ein, uns über einen schmalen Pfad zwischen Privathäusern näher zum Haus seiner Mutter zu führen, dessen Dach jetzt kaum noch aus dem Wasser ragt. "Mama, du hast gestern die Tomaten gegossen", versucht der Mann zu scherzen. Um sein eigenes Haus zu erreichen, müsste das Wasser noch einmal 10 bis 15 Meter ansteigen, deshalb wird die Familie es vorerst nicht verlassen.

Viele können nur die Kleider retten, die sie am Leib tragenBild: Igor Burdyga/DW

Unterdessen sitzen drei Kilometer flussabwärts die Bewohner der Woronzowska-Straße seit dem Morgen in der Falle: Über Nacht hat sich die Uferlinie vom Hafengebäude 500 Meter landeinwärts verlagert und mehrere Hochhausblöcke bis zum zweiten Stockwerk und höher überschwemmt.

Nachmittag des 7. Juni: Rettungskräfte und Freiwillige evakuieren Mensch und Tier

Am "neuen Ufer" von Cherson versammeln sich Retter, Polizisten, Militärangehörige, Journalisten und Freiwillige, die aus dem ganzen Land in die Stadt gekommen sind. Menschen müssen aus Hochhäusern evakuiert werden, sie steigen einfach aus Fenstern und von Dächern in Schlauchboote. Nur das nötigste dürfen sie mitnehmen, vor allem Geld und Dokumente. Doch manchen haben nicht einmal das retten können, sie sind nur mit Unterwäsche bekleidet.

Fast die Hälfte der Freiwilligen und Boote hier sind an der Rettung von Tieren beteiligt. Nach den jüngsten Nachrichten über das Ertrinken von rund 300 Tieren im Zoo von Nowa Kachowka am besetzten linken Dnipro-Ufer wollen sie die Tiere nicht zurücklassen.

Morgen des 8. Juni: Ein ganzer Stadtteil unter Wasser

Das Wasser ist noch einmal um einige Meter gestiegen. Die höheren Lagen am rechten Ufer des Dnipro erreichen die Fluten weiterhin nicht. Aber der Hafenstadtteil Korabel, der auf einer Insel liegt, ist fast vollständig überschwemmt. Die Evakuierung der wenigen Bewohner, die nach sechs Monaten gnadenlosem Artilleriebeschuss dort zurückgeblieben waren, hatte nach den ersten Nachrichten über die Zerstörung des Kachowka-Staudamms begonnen. Am dritten Tag der Katastrophe suchen Retter auf Booten vor allem noch nach Tieren zwischen den Häusern.

Auch Haustiere werden nicht im Stich gelassenBild: Igor Burdyga/DW

Die Zahl der Boote nimmt stündlich zu. Eigentlich leben viele Menschen in Cherson vom Schiffsbau. Vor dem Krieg gab es mehrere Werften, einige Yachtclubs und fast jeder Bewohner der Küstengebiete besaß ein Motorboot. Doch als sich die russische Armee im November auf das linke Ufer zurückzog, beschlagnahmte sie alle verfügbaren Wasserfahrzeuge. Jetzt haben sich Boote aus dem ganzen Süden, vielleicht aus der ganzen Ukraine hier versammelt. Ein Boot ist wie ein Passierschein: Wer ein Boot mitbringt, um zu helfen, darf auch in die Stadt, wenn das ukrainische Militär sie wegen drohender Luft- und Artillerieangriffe abriegelt hat.

Mittag des 8. Juni: Eine Brücke vom Wasser ins Wasser

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj ist in Cherson angekommen. Nachdem er die Retter und das Militär getroffen hat, steigt er zum bereits überfluteten Korabelna-Platz hinab. Von hier führt eine Brücke zum Stadtteil Korabel, doch die ist jetzt vollkommen nutzlos, da man sich ohnehin nur per Boot über die Insel bewegen kann.

Ein paar Blocks weiter nördlich liegt ein kleines Schlauchboot ohne Motor verlassen in einer leeren Gasse. Zu dritt rudern wir darin um einen privaten Garten zu einem Lebensmittelkiosk, von dem nur ein Schild aus dem Wasser ragt. Menschen finden wir weder hier, noch in den benachbarten Hochhäusern.

Nachmittag des 8. Juni: Reporter unter Beschuss

Granaten pfeifen über unser Köpfe hinweg - der Korabelna-Platz wird vom linken Flussufer aus beschossen. Warum jetzt? Der ukrainische Präsident hat den Ort vor mehr als einer Stunde verlassen, Evakuierungsmaßnahmen sind im Gange, Retter, Polizisten, Freiwillige und Journalisten sind die einzigen verbliebenen Ziele.

Wir drei klammern uns in unserem Schlauchboot an die gelbe Wand eines halb überfluteten zweistöckigen Gebäudes. Ein paar Kabel verhindern, dass wir von der Strömung mitgerissen werden. Eine Granate schlägt rund 30 Meter von uns entfernt in ein Haus ein, glücklicherweise ist es leer. Als der Beschuss endlich nachlässt, rudern wir mit doppelter Einsatz zurück ans Ufer. Später erfahren wir: Durch den Beschuss sind neun Menschen verletzt worden, darunter ein Freiwilliger aus Deutschland.

Gegen Abend erreicht die Flut ihren Scheitelpunkt, das Wasser beginnt, langsam abzufließen.

9. Juni: Aufgeschwemmte Minen und Artilleriefeuer

Der russische Beschuss geht trotz drastischer Äußerungen von humanitären Organisationen weiter. Laut Satellitenbildern und Informationen von Bewohnern des linken Dnipro-Ufers hat die Überschwemmung die russische Armee ins Landesinnere gezwungen. Für Artillerie und Mehrfachraketenwerfer liegt das rechte Ufer jedoch weiter in die Reichweite. In Cherson werden immer häufiger zivile Ziele getroffen. An diesem Tag trifft ein Geschoss eine Schule in Ufernähe, ein anderes das Dach eines neunstöckigen Gebäudes. Zum Glück gibt es keine Verletzten.

Kampf ums Überleben in Cherson

03:33

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Über den Fluss erreicht das ukrainische Militär die Stadt Oleschky, die fast vollständig überflutet war. Videos in sozialen Medien zeigen Einheimische, die auf Dächern sitzen und auf Rettung warten. Mehrere Rettungsgruppen erreichen Oleschky von Cherson aus mit schweren Booten - Schlauchboote werden von der Strömung einfach weggespült.

Ein weiteres Problem: Die Fluten haben Landminen aufgeschwemmt. Nach den ersten Berichten über explodierte Boote versucht das ukrainische Militär, die Rettungsfahrten einzuschränken oder zumindest die Freiwilligen-Flottille zu kontrollieren.

Ökologen aus der Region prognostizieren, dass es dauern wird, bis das Wasser auf das vorherige Niveau sinkt. Aus einigen überfluteten Häusern wird es noch einige Zeit abgepumpt werden müssen. Das örtliche humanitäre Zentrum beschreibt den dringendsten Bedarf der Stadt für die kommenden Monate kurz und knapp: "Pumpen und chemische Mittel zur Wasserreinigung".

Dieser Artikel wurde aus dem Ukrainischen übersetzt.

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