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Gesellschaft

Aus Seenot gerettet - in Deutschland gelandet

12. September 2019

Immer wieder ringen EU-Staaten um die Verteilung aus Seenot geretteter Flüchtlinge. Deutschland hat bislang 225 Menschen aufgenommen. Die Libyerin Nesrein ist eine von ihnen. Die DW hat sie getroffen.

Lübeck Flüchtlingsunterkunft Flüchtlinge aus Libyen
Bild: DW/Lisa Hänel

360 Tage hat es gedauert, bis sich Nesrein auf ihren zwölf Quadratmetern am Stadtrand von Lübeck ein neues Leben aufbauen konnte. Den Tag, an dem sie das Haus ihres gewalttätigen Ehemanns in Tripolis verließ, kennt sie genau: Es war der 6. April 2018. Über das Mittelmeer kam sie aus Libyen nach Europa. Jetzt lebt sie seit fünf Monaten in einem kleinen Containerzimmer.

Ein Bett für sie, eins für ihren siebenjährigen Sohn Zizo - das Zimmer ist zu schmal, um sie nebeneinander zu stellen. An Zizos Bettende liegen einige wenige Kuscheltiere, unter den Betten reihen sich die Koffer aneinander. An der Wand: schmale Spinde für ein paar Kleidungsstücke. Daneben ein karger Tisch für die Hausaufgaben. Es ist nicht viel, aber Nesrein fühlt sich hier sicher: "Ich habe nach einer besseren Zukunft gesucht. Die Reise über das Meer war hart. Aber am Ende war es ein Übergang in ein neues Leben."

Es sind Menschen wie Nesrein, über die sich europäische Staaten nicht einig werden. Private Schiffe wie die "Sea-Watch 3" oder die "Alan Kurdi" retten sie auf dem Mittelmeer, mit dem Ziel, einen europäischen Hafen anzusteuern. Der Kurs vieler südeuropäischer Staaten wie Italien oder Malta ist härter geworden, nachdem die Europäische Union sie mit dem Problem allein gelassen hat. Für den 19. September plant die EU ein Sondertreffen, um endlich eine Lösung für die Verteilung der Migranten zu finden.

Nesrein bewohnt ein Zimmer in einer Flüchtlingsunterkunft mit ihrem Sohn, Bad und Küche muss sie sich teilenBild: DW/Lisa Hänel

Nesrein betrat am 9. Januar europäischen Boden. Nach 19 Tagen auf der "Sea-Watch 3" hatte sich Malta bereit erklärt, die 32 Migranten an Bord an Land zu lassen. Es war das vorläufige Ende einer Odyssee für Nesrein. Ganze acht Mal versuchte sie gemeinsam mit ihrem Sohn, das Mittelmeer zu überqueren, bis die "Sea-Watch 3" sie an Bord nahm. Fünf Mal scheiterte der Versuch bereits an Land. Polizei und Küstenwache verhinderten, dass die Migranten überhaupt ein Boot besteigen konnten.

Zwei Mal schafften sie es hinaus ins Wasser. Einmal zerbrach das Boot nach fünf Minuten, ein anderes Mal trieben sie 28 Stunden auf offener See, bis ein libysches Küstenboot sie zurück an Land brachte. Trotzdem habe Nesrein nie ans Aufgeben gedacht: "Es überhaupt zu versuchen, war besser als das Leben, von dem wir davon gelaufen waren. Die Entscheidung meinen Sohn in Todesgefahr zu bringen, war sehr schwer. Aber ich wollte lieber, dass wir gemeinsam sterben, als dass wir in ein schreckliches Leben zurückkehren."

Flucht vor häuslicher Gewalt

Ein Leben, das vor allem durch ihren Ehemann geprägt war. Mit 24 Jahren heiratete Nesrein in Tripolis. Es dauerte nicht lang, bis ihr Mann sie das erste Mal schlug. Nesrein hoffte, dass es besser würde, aber mit jedem Jahr verschlechterte sich die Situation. Die Jahre seit der Geburt ihr Sohnes seien nicht mehr auszuhalten gewesen. Einmal habe ihr Mann ein Grab geschaufelt - für ihren Sohn. Da beschloss Nesrein zu fliehen, nahm alles Geld ihres Mannes, das sie finden konnte. "In Libyen ist es undenkbar, sich scheiden zu lassen", sagt sie. "In meinem Land gibt es keine Freiheiten für Frauen."

Von der Küstenstadt Sawija aus, 50 Kilometer westlich von Tripolis, gelang ihr schließlich die Flucht in Richtung Europa. In einem weißen Boot - eigentlich zu hell für die mondklare Nacht im Dezember. "Wir mussten mehrmals den Motor abschalten, um nicht entdeckt zu werden", erzählt Nesrein. Für die Migranten an Bord stellt sich vor allem eine Frage: Wer wird sie finden? Ein Flugzeug am Himmel machte sie schließlich ausfindig. Es ist die "Sea-Watch 3", die das Boot auf offener See zuerst entdeckte.

Der 7-jährige Zizo geht inzwischen zur Schule und lernt DeutschBild: DW/Lisa Hänel

Deutschland gehört zu den Ländern, die sich immer wieder bereit erklären, Mittelmeer-Migranten aufzunehmen. Aus Regierungskreisen heißt es, über 60 Städte hätten signalisiert, dass sie Flüchtlinge empfangen würden. Darunter kleinere Städte wie Maintal in Hessen, aber auch größere Landeshauptstädte wie Hannover. Seit Juli 2018 hat Deutschland 225 Migranten von Bord privater Schiffen aufgenommen. Je nach Mission waren es mal mehr mal weniger - die höchste Anzahl kam nach der Mission, der auch Nesrein angehörte. Zusammen gerechnet mit den Migranten an Bord der "Professor Albrecht Penck" nahm Deutschland 55 Menschen auf.

Das Bundesinnenministerium erklärt, dass alle Migranten, die über das Mittelmeer gekommen sind, zuerst medizinisch untersucht werden und eine Sicherheitsüberprüfung durchlaufen. Eine kleine Anfrage der Partei "Die Linke" ergab, dass schon mehrfach Migranten durch die Sicherheitsprüfung gefallen sind. "Uns ist es aber wichtig zu betonen, dass wir die zugesagte Zahl auch einhalten", sagt BMI-Sprecher Steve Alter. Bisher sei Deutschland in keinem Fall von der vereinbarten Zahl abgewichen. Das bedeutet: Verspreche Deutschland beispielsweise 35 Migranten aufzunehmen, werde das auch eingehalten. Hält ein Flüchtling den Überprüfungen nicht stand, rückt ein anderer nach. Es wird zunächst eine Zahl genannt, wie viele Migranten Deutschland aufnehmen würde. Erst dann werde genauer geschaut, um wen es sich dabei handele. 

Als Libyer auf der Flucht

Die heute 33-Jährige Nesrein ist in vielerlei Hinsicht eine Ausnahme: Sie ist Libyerin, eine Frau, gut ausgebildet. Die meisten Migranten auf den Schiffen sind Männer aus Subsahara-Afrika. Von den 32 Migranten, die die "Sea-Watch 3" mit ihr an Land brachte, gab es außer Nesrein noch drei weitere Frauen.

Im Dezember 2018 nahm die "Sea-Watch 3" Nesrein und Zizo gemeinsam mit 30 weiteren Migranten an BordBild: Sea-Watch.org/Chris Grodotzki

Inzwischen ist Nesrein in ihrem neuen Leben in Deutschland angekommen. Zizo geht zur Schule, die beiden haben eine einjährige Aufenthaltserlaubnis erhalten. Nesrein will Deutsch lernen und in ihrem Beruf als medizinische Fachangestellte arbeiten. "Ich möchte ein ganz normaler Bürger sein, Steuern zahlen. Deutschland hat in mich investiert und ich möchte etwas zurückgeben", sagt sie. 

Bis dahin scheint es ein weiter Weg zu sein. Die Container der Flüchtlingsunterkunft liegen weit außerhalb der Stadt, eingekreist von Baustellen und verlassenen Feldern. Ein alter Kirmeswagen verwittert neben der Straße. Noch teilt sich Nesrein Bad und Küche mit anderen Flüchtlingen, eine eigene Wohnung hat sie nicht. Die schönen Backsteinhäuser und verträumten Uferpromenaden Lübecks erscheinen wie eine andere Welt neben der Containersiedlung. Dennoch lebt Nesrein gerne hier, nah am Meer. Trotz Schiffbruch und Treiben auf offener See bereitet ihr das Wasser keine Angst. "Das Meer erinnert mich schon an die ganzen Probleme", sagt sie. Aber es sei auch ihr einziger Weg gewesen, um jetzt ein Leben in Sicherheit zu führen.

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