Gedenkstättenleiter will Kind in Nigeria vor Haft bewahren
4. Dezember 2020Er ist erst 13 und soll seine gesamte Jugend in einem nigerianischen Gefängnis verbringen. Omar Farouq soll sich im Sommer im Bundesstaat Kano mit einem Freund gestritten haben und dabei Allah "beleidigt" haben. Viel mehr ist über den Vorfall nicht bekannt.
Vom Schicksal des Jungen erfuhr der Leiter der Auschwitz-Gedenkstätte, Piotr Cywiński, zufällig durch einen Bekannten. Als kurze Zeit darauf eine Mitarbeiterin der Gedenkstätte ausgezeichnet wurde, deren wissenschaftliche Karriere Kindern im ehemaligen deutschen KZ Auschwitz gewidmet ist, kam ihm die Idee: Cywiński erinnerte sich an den Besuch des nigerianischen Präsidenten in Auschwitz vor einigen Jahren und beschloss, ihm einen Brief zu schreiben.
Darin bat er um die Begnadigung des Kindes, aber nicht nur das: Er schlug auch vor, selbst einen Monat für den Jungen abzusitzen, und 119 Freiwillige zu finden, die sich ebenfalls dazu bereit erklären würden, je einen Monat Haft in Nigeria auf sich zu nehmen. 120 Monate - das entspricht der verhängten Haftdauer von 10 Jahren.
Mehr Zuspruch als erhofft
Was seit September geschah, als Direktor Cywiński den Brief schrieb, übertraf seine Erwartungen. 300 Menschen aus aller Welt meldeten sich, darunter Studenten, Arbeitslose, Richter, Geistliche und viele mehr. "Wir bekamen Nachrichten über alle Kanäle: Anrufe, Mails, Briefe. Es kam sogar vor, dass mich Menschen auf der Straße ansprachen und mir Zettel mit ihren Telefonnummern in die Hände drückten", berichtet der Museumsdirektor in einem Gespräch mit der DW.
Auf der Liste derer, die freiwillig ins nigerianische Gefängnis gehen würden, steht auch der Name Igor Tuleya. Er ist wohl der zur Zeit prominenteste Richter in Polen, dem eine neu eingesetzte "Disziplinarkammer" vor kurzem die Richter-Immunität entzogen hatte, um den Weg freizumachen für ein umstrittenes Verfahren gegen ihn.
Im DW-Gespräch betont Tuleya die private Natur seiner Motive, bei der Solidaritätsaktion mitzumachen. Es gehe um einen menschlichen, nicht unbedingt beruflichen Sinn für Gerechtigkeit. "Dieser Fall hat mich sehr bewegt. Die Strafe steht in keinem Verhältnis zu der Tat, die ihm vorgeworfen wird. Es geschieht Ungerechtigkeit und man muss versuchen, zu helfen und den Lauf der Dinge zu wenden", sagt Tuleya.
Er versteht die Initiative als "Protestschrei", dessen symbolische Dimension etwas bewirken könne. "Vielleicht werden sich diejenigen, die ein Kind verurteilt haben, besinnen. Man muss daran glauben, dass unser Schrei jede Mauer zum Fall bringt", sagt Tuleya.
"Liken" und "Sharen" ist zu wenig
Doch bisher herrscht Stille. Der Präsident von Nigeria antwortet nicht auf Piotr Cywińskis Worte. "In Erwartung Ihrer Antwort möchte ich unterstreichen, dass ich nicht aufhören werde, alles zu tun, was der Befreiung dieses Jungen dient", schrieb der Leiter der Gedenkstätte.
Cywiński betont, dass es ihm gar nicht so sehr um eine Antwort gehe, sondern darum, konkret etwas zu tun. "Wir mauern uns immer fester in einer Kultur ein, in der wir glauben, es genüge, ab und an etwas zu 'liken' oder zu 'sharen', und dass wir gut seien, weil wir ja auf der 'guten Seite' stehen. Ich wollte zeigen, dass man manchmal etwas mehr tun muss, als nur etwas anzuklicken”, so Cywiński.
Kinder wurden in Auschwitz nicht verschont
Cywiński weiß nur zu gut, wohin Passivität führen kann und welche grausamen Verbrechen an Kindern in der Weltgeschichte verübt wurden. In der Gedenkstätte Auschwitz, deren Direktor er seit 14 Jahren ist, sind viele allzu kurze Lebensläufe festgehalten. Und wer schon einmal in Auschwitz war, der vergisst vielleicht nie die Berge an Kinderschuhen, die dort aufbewahrt werden.
"Wenn man hier tagtäglich arbeitet, dann blickt man mit einer größeren Sensibilität auf das, was in der Welt passiert", sagt Cywiński. Ihn erschrecke die "Passivität" der westlichen Zivilisation, die in der Pandemie noch deutlicher spürbar geworden sei. "Wir sind alle mit Corona beschäftigt und sehen uns als Opfer. Dabei merken wir gar nicht, welche Dramen sich in der Welt abspielen", betont er.
Diesen Weitblick vermisst auch der Priester und Journalist Kazimierz Sowa. Er entschied sich sofort, Cywińskis Initiative beizutreten. Sowa kennt Afrika gut. Er bereiste den Kontinent mehrmals, um die Situation der Christen dort zu eruieren. Er wolle ein Zeichen setzen und Solidarität zeigen, "wie ich sie in den 1980er-Jahren in Polen selbst erlebt habe" - damals, als sich der Sozialismus dem Ende näherte. "Zu wenig sind wir heute solidarisch mit Menschen, die weit entfernt leben", kritisiert der Geistliche.
Ein Licht in der Dunkelheit
Inzwischen gibt es ein kleines Licht am Ende des Tunnels: Von Omar Farouqs Anwälten hat Cywiński erfahren, dass der Fall in zweiter Instanz in Revision verhandelt werden wird. Das eröffnet den Weg zu noch höheren Instanzen. "In Nigeria gilt zweierlei Recht. Offiziell ist das Land eigentlich ein säkularer Staat, in dem englisch grundiertes Recht gilt. In den Bundesstaaten können auch traditionelle Rechtssysteme angewendet werden, aber normalerweise nur im zivilrechtlichen Bereich”, erläutert der Leiter der Haussa-Redaktion der DW, Thomas Mösch, das Prinzip.
Der Süden des westafrikanischen Landes wird mehrheitlich von Christen bewohnt, der Norden ist muslimisch dominiert. Mösch weist darauf hin, dass seit etwa 20 Jahren in vielen nordnigerianischen Bundesstaaten die Scharia auch im Strafrecht zur Anwendung kommt - und so ist es auch in Kano, der Heimat des Inhaftierten Farouq.
Es sei auch in Nigeria umstritten, ob das verfassungsrechtlich überhaupt erlaubt ist. "Es wird geduldet und dadurch erleben wir immer wieder sehr harsche Urteile von örtlichen Scharia-Gerichten, die aber in der Regel in höheren Instanzen wieder aufgehoben werden - spätestens, wenn die Fälle am Ende im nationalen Gerichtssystem landen", so Mösch. Er fügt hinzu, dass derartige Urteile bisher fast nie umgesetzt wurden.
Mösch ist überzeugt davon, dass in Nigeria internationale Solidarität wie die Initiative aus Polen wahrgenommen wird und am Ende auch dazu beitragen kann, dass Fälle auf höhere Ebenen gebracht oder sogar Verfahren eingestellt werden.
Zur Zeit sind Omar Farouq und ein anderer Junge, der wegen Blasphemie zum Tode verurteilt wurde, in Haft, berichtet ein DW-Reporter aus Kano. Wenn Farouq seine ganze Gefängnisstrafe verbüßen müsste, wäre er erst mit 23 Jahren wieder frei. "Er würde eine lebende Leiche sein, wenn er es überhaupt überleben würde", fürchtet Gedenkstätten-Direktor Cywiński. "Er würde freikommen als jemand, dem man die ganze Kindheit und Jugend geraubt hat. Er wäre ein menschliches Wrack." Cywiński überlegt, Geld zu sammeln, um Omar eine Ausbildung zu finanzieren, sobald der Junge begnadigt wird.