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"Auschwitz ist nicht vom Himmel gefallen"

27. Januar 2020

75 Jahre nach der Befreiung des KZ Auschwitz durch die Rote Armee rühren die Auftritte der letzten Überlebenden an. Aber sie mahnen die Welt auch deutlich zur Wachsamkeit, denn der Antisemitismus weite sich wieder aus.

75. Jahrestag, Befreiung, Auschwitz
"Lassen Sie mich Schalom sagen": Überlebende beim 75. Jahrestag zur Befreiung von Auschwitz Bild: Reuters/K. Pempel

Der Ort des "monströsesten Albtraums" in der Menschheitsgeschichte. So beschreibt Polens Präsident Andrzej Duda als erster Redner beim Gedenken an den 75. Jahrestag der Befreiung des NS-Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz die Gräuel, das Unvorstellbare dieses Ortes. Und Duda verspricht, Polen werde "die ewige Erinnerung" wahren.

Auschwitz. Hier, im heutigen Polen, perfektionierten die Nazis ihre Mordmaschine. Erschießungen, Gaskammern, Krematorien. Seit 1940, vor allem seit 1943 starben hier 1,1 Millionen Menschen. Bis zum 27. Januar 1945, dem Eintreffen der Roten Armee. 75 Jahre danach sind gut 200 Überlebende mit Angehörigen sowie Repräsentanten aus rund 50 Ländern zum Gedenken versammelt.

Im Zelt, in der Trauer

An kaum einem Tag ist Birkenau so wenig Gedenkstätte wie an den runden Jahrestagen der Befreiung. Der gewaltige Zeltbau, Lichttürme, Gabelstapler, Dixi-Klos, bollernde Generatoren, Kabelstrecken, Kontrollstellen und Sperrungen, in den Abend hinein immer mehr Blaulicht und Sirenen. Andererseits: An kaum einem Tag ist Birkenau so sehr Gedenkstätte wie an diesen Jahrestagen der Befreiung. Wegen der - diesmal gut 200 - Überlebenden, zerbrechlichen, starken Frauen und Männern.

Da sitzen sie im weiten Zelt in den vorderen Reihen, im Sonntagsstaat, einige im Rollstuhl, viele mit dem weiß-blau gestreiften Halstuch, einem Symbol des Ortes, der Überlebenden. Zwischen ihnen das Gleis, über dem das Zelt errichtet ist, jenes Gleis, über das sie einst alle in Viehwägen gepfercht an die Rampe rollten, an der über Leben und Tod entschieden wurde. 

"Schalom"

Vier von ihnen treten nacheinander ans Mikrofon. Langsam, zitternd, aber stark. "Lassen Sie mich Schalom sagen", fängt die Israelin Bat-Sheva Dagan in polnischer Sprache an. Sie sei sich nicht sicher, "ob das nun Wirklichkeit ist oder ein Traum", 75 Jahre danach. Die 94-Jährige, deren Eltern und Schwester im KZ Treblinka ermordet wurden, überlebte als einzige ihrer Familie. 20 Monate war sie in Auschwitz. Und nun erzählt sie, die in Israel als Pionierin der Vermittlung des Holocausts für Kinder gilt, vom Alltag im Lager, der grausamen Aufpasserin, der Angst vor dem "Todesengel" Dr. Mengele, der in Auschwitz zum Massenmörder wurde. Und von Freundschaft im Lager. Sie redet lange, das Manuskript ist verlegt, so spricht sie frei, braucht Wasser und noch ein Wasser. Und als sie endet, zittert sie. Beifall begleitet ihren langsamen Weg zum Platz.

Auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier gedenkt der Opfer in Auschwitz Bild: Reuters/K. Pempel

Oder Else Baker (84), die gebürtige Hamburgerin, die die Nazis als "Zigeunermischling" einstuften und nach Auschwitz schickten. Heute lebt sie in der Nähe von London, und hier dankt sie, zu blind, um zu lesen, dem polnischen Staat für die Bewahrung der Gedenkstätte. Und mahnt alle zum Einsatz für Demokratie und Menschenrechte. Marian Turski (93), in Polen ein angesehener, immer noch aktiver Journalist, hat den Vorsitz des Rates des beeindruckenden Warschauer "Museums der Geschichte der polnischen Juden". "Auschwitz ist nicht vom Himmel gefallen", sagt er. Und Stanisław Zalewski (93), der so sehr die Würde des Menschen verteidigt.

"Die Letzten"

Jeder der vier überlebte mehrere Lager, nicht nur Auschwitz. Aus ihnen allen spricht die Erfahrung dieser Hölle, der Nacht, die nicht vergeht. Sachlich berichten sie und voller Emotionen. Und dann entschuldigen sie sich für diese Gefühle. Die letzten Zeugen, die so kostbar sind. Dieses "die Letzten" klingt immer wieder an in diesen Tagen. Am Vorabend scherzte Michael Bornstein (80), einer von nur 52 Kindern unter acht Jahren, die nach der Befreiung geborgen wurden: "Never underestimate the survivors!" Aber im Gespräch hört man doch meist "das letzte Mal". 

"Offene Ausbreitung" antijüdischen Hasses: Unter dem Zeltdach hören viele die Rede von Ronald S. Lauder Bild: Reuters/K. Pempel

Ronald Lauder, Präsident des Jüdischen Weltkongresses, bindet diese Beiträge und Gefühle zusammen. Geradezu zärtlich spricht er von den Opfern und den Überlebenden. Regelrecht wütend wird er, als er der Welt zur Zeit des Holocausts Versagen vorwirft.  Alle hätten weggeschaut, quasi jedes europäische Land habe seine Juden in die Vernichtung geschickt, niemand habe geholfen. Und heute? Gebe es wieder eine "offene Ausbreitung" antijüdischen Hasses in aller Welt. Antisemitismus weite sich aus und die Weltgemeinschaft lasse Israel bei den Vereinten Nationen auf der Anklagebank sitzen.

Kaddisch des Lebens

Im Zelt gibt es vor dem Abschluss Gebete. Helfer stemmen einen alten, zitternden Kantor aus dem Rollstuhl. Der 93-jährige David Wisnia, auch ein Auschwitz-Überlebender, stimmt den Kaddisch an, den Trauergesang über die Toten von Auschwitz und all den Lagern. Er singt mit plötzlich starker Stimme, dass man ahnt: Es ist der Kaddisch seines Lebens.

"Man muss auf sein Herz hören"

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Dann geht es für die, die laufen können, hinaus aus dem gewaltigen Zelt, entlang des Gleises und zwischen den Zäunen. Es sind zunächst eher die offiziellen Gäste, auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier Seit' an Seit' mit Israels Präsident Reuven Rivlin.  Die trügerische Milde des Wintersonnentags ist längst der Kälte gewichen. Da draußen an der Rampe wartete damals der Tod, das Gas. Nacht ist es nun geworden, wie es hier irgendwie doch immer Nacht ist. 

"Die Seele war voller Angst"

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