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PolitikNahost

Israels Kampf gegen die Tunnel in Gaza

Andreas Noll
19. Dezember 2023

Zum ersten Mal seit Beginn des Krieges hat Israel Aufnahmen eines riesigen Tunnels im Gazastreifen veröffentlicht. Das ausgeklügelte System der Hamas wirft viele Fragen auf. Im Kampf gegen die Tunnel soll Wasser helfen.

Vier bewaffnete Soldaten laufen durch einen Tunnel
Israelische Soldaten inspizieren den großen Hamas-Tunnel in der Nähe des Grenzübergangs ErezBild: Amir Cohen/REUTERS

Abwasserentsorgung, Elektrizität, Belüftung und sogar Schienen: Das israelische Militär hat Bilder eines Tunnelsystems im Gazastreifen veröffentlicht, das sogar Fahrzeuge aufnehmen kann. In einer Tiefe von rund 50 Metern soll der Tunnel nach Militärangaben eine Gesamtlänge von mehr als vier Kilometern haben und mehrere Abzweigungen besitzen. Es ist das größte bekannte Tunnelbauwerk, das je im Gazastreifen entdeckt wurde.

Rund 400 Meter vom Grenzübergang Erez entfernt wurde der bislang größte Hamas-Tunnel entdecktBild: IDF/Xinhua/picture alliance

Die Anlage befindet sich demnach lediglich 400 Meter vom Grenzübergang Erez entfernt, über den bis zum Terrorüberfall der Hamas am 7. Oktober der Personenverkehr zwischen Israel und Gaza erfolgte. In dem Tunnelsystem, dessen Wände aus Stahlbeton bestehen, hat die Hamas nach israelischen Angaben zahlreiche Waffen versteckt. 

Seit wann gibt es die Tunnel in Gaza?

Nach ihrer Machtübernahme im Gazastreifen 2007 hat die Hamas begonnen, ein riesiges Tunnelsystem anzulegen. Es durchzieht weite Teile des rund 40 Kilometer langen und weniger als ein Dutzend Kilometer breiten Küstenstreifens.

Schmugglertunnel an der Grenze zwischen Ägypten und dem Gazastreifen (Archivbild von 2012) Bild: Patrick Baz/AFP

In den ersten Jahren dienten Tunnel dazu, die Blockade des Gebiets zu umgehen. Sie führten unter der Grenze zum Sinai hindurch und wurden genutzt, um Waffen, Menschen und Lebensmittel zwischen Ägypten und dem Gazastreifen zu schmuggeln. Später begann die Hamas mit dem systematischen Aufbau eines Tunnelsystems, das weite Teile des Gazastreifens umfasst und einer militärischen Logik folgt.

Mit der Zerstörung des teilweise festungsartig ausgebauten Systems würde die Terrortruppe den Kern ihrer militärischen Strategie verlieren: die Fähigkeit, sich unbemerkt von den israelischen Truppen zu bewegen. Die Möglichkeit, Hinterhalte zu legen, aber auch Nachschub und Feuerkraft würden stark geschwächt, ein militärischer Zusammenbruch der Hamas - so das israelische Kalkül - könnte die Folge sein.

Wie groß ist das Tunnelsystem?

Experten der US-Militärakademie West Point sprechen in einer Studie von einer "unterirdischen Stadt" in dem sandigen Untergrund mit einer geschätzten Gesamtlänge von 500 Kilometern. Bei den israelischen Streitkräften wird das weit verzweigte Tunnelsystem gelegentlich auch als "U-Bahn von Gaza" bezeichnet. 

Im Kampf gegen Israel nutzte die Hamas das Tunnelsystem erstmals im Gaza-Krieg 2014. Damals schätzten israelische Experten die Zahl der Tunnel auf 1300. Israel hat nach eigenen Angaben bis 2021 gut hundert Kilometer des Tunnelsystems zerstört. Doch es wurden immer wieder neue unterirdische Wege gegraben. Im aktuellen Konflikt haben die israelischen Streitkräfte eigenen Angaben zufolge bislang mehr als 800 Tunnelschächte gefunden und einen Großteil davon zerstört. 

Tunnel der Hamas sind regelmäßig Ziele der israelischen LuftangriffeBild: Leo Correa/AP Photo/picture alliance

Wie gut sind die Tunnel ausgerüstet?

Die Zugänge zum Tunnelsystem befinden sich teilweise unter Privathäusern, Moscheen, Geschäften, aber wohl auch in der Nähe von besonders geschützten Orten wie Krankenhäusern. Inzwischen freigelassene israelische Geiseln haben berichtet, dass sie mehrere Stunden durch ein "Spinnennetz" aus nassen und feuchten Tunneln geführt wurden, bevor sie an die Erdoberfläche kamen. Die Geiseln berichteten auch, dass sich die Hamas-Terroristen in den Tunneln mit Motorrädern fortbewegten.

Während die Tunnel in den ersten Jahren noch provisorisch ausgestattet waren, sind viele Stollen inzwischen mit Beton ausgekleidet und bergmännisch gesichert. Neben Stromleitungen gibt es bisweilen sogar getrennte Leitungen für Frisch- und Abwasser geben. Experten zufolge kostet der Bau der abgestützten und belüfteten Tunnel rund 500.000 US-Dollar pro Kilometer. Israel schätzte die Gesamtkosten für den Tunnelbau bereits 2014 auf 1,25 Milliarden US-Dollar.

Welche militärische Bedeutung haben die Stollen?

Die Tunnel sind ein schwer einzunehmendes Rückzugsgebiet, in dem die Hamas mutmaßlich Treibstoff und Lebensmittelvorräte für viele Wochen lagert. Über das Tunnelnetz verteilt befinden sich Kommando- und Kontrollposten der Terrororganisation, von denen aus die Kämpfer befehligt und koordiniert werden. Unter dem Al-Schifa-Krankenhaus haben die israelischen Streitkräfte nach eigenen Angaben eine solche Zentrale entdeckt.

Israelische Soldaten präsentieren einen Tunneleingang neben dem Al-Schifa-Krankenhaus in Gaza-StadtBild: Ronen Zvulun/REUTERS

Daneben sollen die Tunnel auch als Lager und Produktionsstätte für Tausende von Raketen dienen, mit denen die Hamas Israel immer wieder beschießt. Die Raketen werden aus den Tunneln getragen und dann sofort abgefeuert.

Das Tunnelsystem ist so angelegt, dass viele Stellungen der Hamas an neuralgischen Punkten unterirdisch erreichbar sind. So können sich die Kämpfer nach einem Angriff auf israelische Bodentruppen schnell und unerkannt zurückziehen.

Wie werden die Tunnel bislang bekämpft?

Bisher haben die israelischen Streitkräfte die Tunnel vor allem aus der Luft bombardiert. Dabei kam es bereits mehrfach zu Treibstoff- oder Munitionsexplosionen in den unterirdischen Gängen, die ganze Häuserzeilen zum Einsturz brachten.

Die Bekämpfung der Tunnel aus der Luft ist extrem schwierig, da sich wichtige Tunnelelemente in einer Tiefe von gut 70 Metern befinden und somit selbst für Spezialbomben, die sich in den Untergrund bohren, schwer zu erreichen sind. Nach öffentlich zugänglichen Informationen sind die Tunnel - ähnlich wie Schützengräben - zickzackförmig angelegt. Eine Bauweise, die die Zerstörungskraft von Druckwellen mindert.

Die teils bergmännisch gesicherten Tunnel dienen der Hamas diversen militärischen ZweckenBild: Ashraf Amra/AA/picture alliance

Die israelische Armee hat mit der Yahalom-Truppe eine eigene Spezialeinheit gebildet, die im Tunnelkampf von Hunden unterstützt werden. Auch Roboter werden in den Tunneln eingesetzt, um Sprengfallen aufzuspüren und das hohe Risiko für die Soldaten etwas zu verringern, die beim Kampf im Untergrund schnell das Gefühl für Zeit und Raum verlieren.

Zur Ausrüstung der Yahalom-Einheit sollen spezielle Waffen und Munition gehören, die die Gefahr von Querschlägern in den engen Tunneln verringern. Außerdem sollen die Spezialeinheiten mit speziellen "Schwammbomben" (Engl: sponge bombs) ausgerüstet sein, die einen schnell aushärtenden Schaum erzeugen, der Tunnelstrecken unpassierbar macht. John W. Spencer ist Experte für urbane Kriegführung am Modern War Institute in den USA. In einem Podcast des Instituts der US-Streitkräfte sagt er: "Nichts, was man oben nutzt, funktioniert da unten. Man braucht spezielle Ausrüstung zum Atmen, Sehen, Navigieren, Kommunizieren und zum Einsatz militärischer Mittel. Insbesondere zum Schießen."

Die israelischen Streitkräfte haben nach Informationen von CNN und "The Wall Street Journal" im November damit begonnen, Meerwasser in einige Tunnel im Gazastreifen zu pumpen. Auf diese Weise solle herausgefunden werden, ob sich die Methode zur Bekämpfung der Hamas eignet. Der Zeitung "Times of Israel" zufolge ist die Testphase erfolgreich verlaufen. Eine Quelle für diese Information nannte die Zeitung aber nicht.

Sind Hamas-Tunnel in der Vergangenheit schon einmal geflutet worden?

Einige Tunnel im Grenzgebiet zwischen Gaza und Ägypten wurden 2015 vom ägyptischen Militär geflutet. Die USA wiederum haben im Vietnamkrieg militärische Erfahrungen mit Kämpfen in weit verzweigten Tunnelsystemen gesammelt. Flächendeckende Tunnelflutungen sind aus der Militärgeschichte aber nicht bekannt.

Die Vorbereitungen für eine groß angelegte Tunnelflutung konzentrieren sich Medienberichten zufolge auf die Region um das Flüchtlingslager Al-Schati im Norden des Gazastreifens. Dort soll Israel unlängst sechs Pumpen installiert haben, die stündlich mehrere 100.000 Liter Meerwasser in die Tunnel pumpen könnten.

Not-Trinkwasserversorgung im Gazastreifen: Die Qualität des Grundwassers gilt als schlechtBild: Mohammed Talatene/dpa/picture alliance

Welche Folgen könnte die Flutung der Tunnel haben?

Das Kalkül der israelischen Militärs ist offensichtlich: Die Flutung der Tunnel würde die Terroristen an die Oberfläche zwingen. Beobachter warnen aber davor, auf diese Weise auch das Leben der Geiseln zu gefährden, die mutmaßlich in dem Tunnelsystem versteckt werden. Von den rund 240 Geiseln, die die Hamas am 7. Oktober bei ihrem Terrorüberfall auf Israel entführt hat, befinden sich noch mehr als 130 in der Gewalt der militanten Islamisten, die nicht nur von westlichen Staaten als Terrororganisation eingestuft wird.

Hunderttausende Liter Meerwasser im Untergrund könnten aber auch Folgen für die Statik von Gebäuden in dem mit mehr als 2,2 Millionen Einwohnern dicht besiedelten Gazastreifen haben. Fachleute wie Eilon Adar vom Zuckerberg Institut für Wasserforschung an der Ben-Gurion-Universität in Beersheva machen auf weitere Begleitschäden einer solchen Salzwasser-Operation aufmerksam: "Der negative Einfluss auf die Grundwasserqualität würde mehrere Generationen andauern", kommentiert der Wissenschaftler gegenüber der "Times of Israel". Dabei gilt die Qualität des Grundwassers wie auch die Trinkwasserversorgung allgemein in Gaza schon heute als sehr schlecht.

Dieser Artikel wurde nach der Entdeckung des großen Hamas-Tunnels in Erez am 19.12.2023 aktualisiert.

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