Wenn Hunger zur Waffe wird
20. August 2025
Sie häufen sich und werden lauter: Forderungen nach einer strafrechtlichen Verfolgung des Aushungerns als gezielter Strategie in militärischen Konflikten.
"Hunger ist eine Kriegswaffe, die derzeit weltweit eingesetzt wird. Das muss aufhören, denn es verstößt gegen das humanitäre Völkerrecht", erklärte Shayna Lewis, leitende Sudan-Beraterin der US-amerikanischen Organisation PAEMA (Preventing and Ending Mass Atrocities), kürzlich gegenüber der DW. Sie sprach von der Stadt Al-Faschir im Sudan, die seit einem Jahr belagert wird. Dort sitzen rund 30.000 Menschen fest, die keine Lebensmittel mehr haben. "Es ist ein internationales Verbrechen und muss als solches verfolgt werden", so Lewis.
Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International und Human Rights Watch äußerten sich ähnlich über das israelische Vorgehen im Gazastreifen: Dort wird dem Militär immer wieder Blockade von Hilfsgütern und Lebensmitteln vorgeworfen. "Israel lässt Gaza hungern. Das ist Völkermord. Das ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Das ist ein Kriegsverbrechen", sagte Michael Fakhri, Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen für das Recht auf Nahrung, in der vergangenen Woche der britischen Zeitung "The Guardian".
"Hunger als Waffe eingesetzt"
Experten zufolge gibt es weltweit immer häufiger Forderungen, den Hungertod von Zivilisten als Kriegsverbrechen zu ahnden. Ein Grund dafür: Immer häufiger verursachen Konflikte Hungersnöte. "Hunger ist ein uraltes Phänomen, das Kriegsparteien seit Jahrhunderten nutzen", sagt Rebecca Bakos Blumenthal, Rechtsberaterin beim Projekt "Starvation Accountability" (Verantwortung für Hunger) der niederländischen Stiftung "Global Rights Compliance" (GRC). Gerade in den vergangenen zehn Jahren sei diese Taktik immer wieder aufgetaucht.
Tatsächlich kam es in den vergangenen zehn Jahren unter anderem in Nigeria, Somalia, Südsudan,Sudan, Syrien und Jemen zu konfliktbedingten Hungersnöten. Experten für Ernährungssicherheit verfolgen teils zudem die These, dass auch die russischen Angriffe auf die ukrainische Landwirtschaft im völkerrechtlichen Sinne als kriminelle Versuche gewertet werden könnten, die Blockade von Nahrungsmitteln als Waffe einzusetzen.
"Auch wenn sich die globale Ernährungssicherheit insgesamt verbessert, nimmt die Zahl der Hungersnöte zu", schrieb Alex de Waal, Professor an der Tufts University in den USA, in der vergangenen Woche. "Die globale Ernährungssicherheit ist volatiler und ungleicher verteilt. Das spricht dafür, dass Hunger als Waffe eingesetzt wird."
Hält eine Kriegspartei vorsätzlich Nahrungsmittel oder andere lebensnotwendige Güter für die Zivilbevölkerung der anderen Seite zurück, gilt dies in vielen Staaten sowie in verschiedenen völkerrechtlichen Bestimmungen, darunter den Genfer Konventionen und dem Römischen Statut (das etwa vom Internationalen Strafgerichtshof - IStGH - angewendet wird), als Kriegsverbrechen.
Doch bisher wurden die mit dieser "Waffe" agierenden Täter nie genau deshalb vor Gericht gestellt: Das Kriegsverbrechen des Aushungerns wurde nie isoliert vor einem internationalen Gericht verfolgt, sondern nur im Rahmen von rund 20 anderen Kriegsverbrechensfällen.
Die Bewertung ist allerdings schwierig: Denn der Umstand, dass Zivilisten in einem Konflikt hungern, deutet nicht zwangsläufig auf ein Verbrechen hin.
"Eine der rechtlichen Fragen ist die des Vorsatzes", argumentiert Experte de Waal gegenüber der DW. "Das Kriegsverbrechen des Hungerns setzt voraus, dass der Täter vorsätzlich handelt." Die meisten Rechtsexperten gingen dabei jedoch davon aus, dass auch eine indirekte Absicht vorliegen könnte. Diese sei dann gegeben, wenn die eine Seite davon ausgehen könne, dass es zu einer Hungersnot kommen könne, aber nichts tue, um sie zu verhindern.
Neue Sicht auf Hungerkatastrophen
Bis vor einigen Jahren wurde Hunger oft vor allem als entwicklungspolitisches oder humanitäres Problem betrachtet, sagt Expertin Blumenthal vom GRC. Nun aber rücke die kriminelle Dimension stärker in den Fokus. "Die Dinge geraten in Bewegung."
2018 verabschiedete der UN-Sicherheitsrat einstimmig die Resolution 2417. Diese verurteilt das Aushungern von Zivilisten als "Methode der Kriegsführung". 2019 wurde das Römische Statut geändert. Seitdem gilt das Aushungern nicht nur in internationalen, sondern auch in nationalen bewaffneten Konflikten als Kriegsverbrechen. Es gab auch UN-Untersuchungskommissionen zu den Konflikten im Südsudan und in Äthiopien-Tigray, die sich speziell mit dem Thema Aushungern als Kriegsverbrechen befassten, erläutert Blumenthal.
"Immer mehr internationale und lokale Organisationen prangern dieses Vorgehen an. Markante Beispiele, wie derzeit etwa Gaza, haben das Bewusstsein für dieses Verbrechen deutlich geschärft", stellt sie fest.
So seien die Haftbefehle des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) gegen Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu und Ex-Verteidigungsminister Joav Galant im November 2024 ein "historischer Meilenstein", meint Blumenthal. Ausdrücklich werde in ihnen der Vorwurf des Aushungern als Kriegsverbrechen erwähnt. Erstmals seien damit internationale Haftbefehle wegen mutmaßlichen Aushungerns als eigenständiges Verbrechen erlassen worden. Der IStGH führe zudem eine Untersuchung im Sudan durch. Weder Israel noch das Regime im Sudan und dessen Kriegsgegner erkennen den IStGH an.
Das Thema Aushungern hab in den vergangenen zehn Jahren trotzdem "zweifellos an Aufmerksamkeit gewonnen", so de Waal. "Die rechtlichen Rahmenbedingungen sind vorhanden. Was fehlt, ist der politische Wille zum Handeln."
Juristische Aufarbeitung ungewiss
Es gebe noch immer rechtliche Herausforderungen, sagt de Waal im DW-Gespräch. "Ich bin aber zuversichtlich, dass eine Verurteilung vielfach möglich ist. Man muss die Angeklagten nur vor Gericht bringen."
Blumenthal stimmt zu. "Es gibt Missverständnisse in diesem Zusammenhang, und viele Menschen denken, Hunger sei ein unvermeidlicher Teil des Krieges", sagt sie. "Aber unsere Untersuchungen zeigen, dass diese Muster tatsächlich sehr deutlich sind und man in vielen Situationen eine bewusste Strategie erkennen kann."
Blumenthal ist vorsichtig optimistisch, dass diejenigen, die Zivilisten absichtlich aushungern, eines Tages vor Gericht gestellt werden. "Das ist sicherlich die Hoffnung", schließt sie. "Darauf arbeiten wir alle hin."
Aus dem Englischen adaptiert von Kersten Knipp.