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KonflikteUkraine

Auslands-Ukrainer als Gefangene des Kriegsrechts

Amien Essif
31. Mai 2022

Kriegsdienstfähige Männer dürfen die Ukraine nicht verlassen. Eine Ausnahme: Sie leben dauerhaft woanders. Doch Auslands-Ukrainer, die zufällig bei Kriegsbeginn im Land waren, sitzen fest, weil ihnen ein Stempel fehlt.

Ukraine: Andrej verabschiedet sich von seiner Frau am zentralen Busbahnhof in Lwiw
Andrej verabschiedet sich von seiner Frau am zentralen Busbahnhof in LwiwBild: Amien Essif/DW

Andrej lebt seit mehr als zehn Jahren außerhalb der Ukraine. Als Mitte Februar sein Vater stirbt, reist er mit seiner Frau in sein Geburtsland, um an dem Begräbnis teilzunehmen. Sie wollen nur kurz bleiben, um dann wieder nach Hause zu fliegen - zurück nach Miami. Doch dann, eine Woche nach ihrer Ankunft, beginnt die russische Invasion. Die Ukraine verhängt das Kriegsrecht, nach dem Männer zwischen 18 und 60 Jahren das Land nur unter besonderen Voraussetzungen verlassen dürfen. Eine dieser Ausnahmen: Männer, die wie Andrej dauerhaft im Ausland leben. Und doch hindert man ihn an der Ausreise.

Andrejs Schwester und seine Mutter fliegen nach Lettland. Seine Frau, deren Ukraine-Visum nur kurz gültig ist, kehrt in die USA zurück. Das will auch Andrej, sehnsüchtig: zurück zu seiner Frau, seinem Haus, seinem Job, seinem normalen Leben. Stattdessen ist er allein in der Ukraine. Und alles, was er dabei hat, ist ein Koffer voller Winterkleidung.

Andrej wartet in Lwiw auf ein TaxiBild: Amien Essif/DW

Blinder Fleck in der Bürokratie

Andrejs verzweifelte Lage könnte man als Pech abtun, doch er ist nicht allein mit diesem Schicksal: Vitalij, Mediziner in einem tschechischen Krankenhaus, nahm drei Tage vor Kriegsausbruch Urlaub, um in der Ukraine seine Eltern zu besuchen. Vito, Angestellter eines Museums in den Vereinigten Arabischen Emiraten, flog am 17. Februar in die Ukraine; er hat nun kein Einkommen mehr, um seine Familie zu unterstützen. Mykola, Wissenschaftler an einem deutschen Forschungsinstitut, sollte in der deutschen Botschaft die für das Visum seiner Frau benötigten Dokumente vorlegen, doch die Botschaft wurde geschlossen, kurz bevor die Grenzen für ukrainische Männer dichtgemacht wurden. Aleksy kehrte aus Polen in die Ukraine zurück, um an der Front zu kämpfen; jetzt, da seine Einsatzzeit beendet ist, kann er nicht zu seiner Familie und seiner Arbeit in Gdansk zurück. Oleksander wollte nur in Kiew einen Pass für seinen neugeborenen Sohn beantragen; er kämpft nun mit Unterstützung seines lettischen Arbeitgebers für seine Rückkehr in das baltische Land.

Aleksy (l.) hat in der Ostukraine gekämpft - nun darf er nicht mehr zurück nach Polen, wo er lebtBild: Amien Essif/DW

All diese Männer baten die DW darum, nur ihre Vornamen zu nennen, um eventuelle negative Auswirkungen zu vermeiden. Einige von ihnen arbeiten aus dem Home Office, andere haben unbezahlten Urlaub eingereicht in der Hoffnung, irgendwann in ihre Jobs zurückkehren zu können. Die meisten von ihnen sind von ihren Familien getrennt, und alle geben an, das Ausreiseverbot versetze sie in eine finanzielle und emotionale Notlage.

Auswege gesucht

In der Not hat Andrej einen Telegram-Kanal für Auswanderer ins Leben gerufen, die in der Ukraine festsitzen. Mittlerweile tauschen sich dort über 130 Mitglieder aus, doch er glaube, es gibt noch viel mehr Betroffene. "Ich verstehe nicht, warum die Regierung diese Entscheidungen trifft. Wahrscheinlich sagen sie: 'Es sind nur ein paar Tausend. Die haben eben Pech.'"

Offiziell gilt das Ausreiseverbot nicht für Männer, die ihren Wohnsitz außerhalb der Ukraine haben. Doch Dokumente, die einen Auslandswohnsitz belegen, reichen als Ausreiseberechtigung nicht aus. Grenzbeamte verlangen einen bestimmten Stempel der ukrainischen Behörden, der vor dem Krieg keine Voraussetzung war, um das Land zu verlassen. Deshalb dürften die wenigsten der geschätzt sechs Millionen Auslands-Ukrainer diesen Stempel im Pass haben, sagen Experten. Und nun, da er plötzlich verlangt wird, ist er praktisch nicht zu bekommen.

130 Nutzer tauschen sich auf Andrejs Telegram-Kanal für gestrandete Auslands-Ukrainer ausBild: Amien Essif/DW

Mykola, der Wissenschaftler aus Deutschland, sagt, dass Hilfe - oder auch nur Verständnis - schwer zu bekommen ist, da die rechtliche Stellung der Auslands-Ukrainer kompliziert ist. "Auf dem Papier sieht alles in Ordnung aus, so, als können die Leute nach Hause gehen", sagt er. "Aber in Wirklichkeit geht das nicht."

Nachdem Betroffene auf Facebook auf ihre Notlage aufmerksam machten, bestätigte der ukrainische Grenzschutz, dass ein Stempel im Pass, der die Ausreise aus der Ukraine genehmigt, den einzigen akzeptierten Beweis für einen dauerhaften Auslandswohnsitz darstellt. "Wenn eine Person faktisch im Ausland gelebt hat", führten die Behörden aus, "jedoch ihre Ausreise nicht gemäß dem offiziellen Verfahren registriert hat (…), kann sie die Ukraine leider nicht verlassen."

"Unlösbare Aufgabe"

Um diesen Stempel zu erhalten, muss ein Ukrainer zunächst die Erlaubnis der staatlichen Auswanderungsbehörde erhalten und sich sowohl bei seinem örtlichen Einberufungsamt als auch von seinem bisherigen Wohnsitz abmelden. Diese Prozedur nahm selbst vor der russischen Invasion bis zu drei Monate in Anspruch. Jetzt, da der Krieg tobt, sind viele Verwaltungsdienststellen im Osten und Südosten zerstört, oder sie wurden von den Russen geschlossen. Selbst in von der Ukraine kontrolliertem Territorium haben viele Ämter geschlossen oder keinen Aktenzugang, so dass es unmöglich ist, den entsprechenden Stempel zu erhalten. "Es ist im Grunde eine unlösbare Aufgabe", sagt Mykola.

Präsident Selenskyj hat dazu aufgerufen, sein Land gegen die russische Aggression zu verteidigenBild: Sarsenov Daniiar/Ukrainian Presidency/IMAGO

Das Verwaltungsamt in Andrejs Heimatstadt in der Oblast Kiew bestätigte gegenüber der DW, dass der "Nachweis zur Registrierung des Wohnsitzes", den er für seine Bewerbung benötigt, nicht erhältlich ist, da die entsprechende Datenbank nicht zugänglich sei. Weder der ukrainische Grenzschutz noch das Innenministerium reagierten auf wiederholte Anfragen der DW, zur Situation der Auslands-Ukrainer Stellung zu nehmen.

Mykola sagt von sich, er habe es noch verhältnismäßig gut getroffen: Seine Frau leistet ihm Gesellschaft, und er kann seine Forschungen in Heimarbeit weiterführen. Doch das trifft nicht auf alle Betroffenen zu, mit denen die DW gesprochen hat. 

Zusätzlich stigmatisiert

Betroffene berichten zudem, dass Männern, die nicht in der Ukraine bleiben wollen, ein Makel anhaftet. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat Auslands-Ukrainer wie auch Ausländer dazu aufgerufen, das Land gegen den russischen Angriffskrieg zu verteidigen. Das Kriegsrecht, das kürzlich um weitere drei Monate verlängert wurde, verpflichtet Männer zwar nicht zum Kampf, hindert sie aber daran, das Land zu verlassen.

Andrej erzählt, wie Männer verhöhnt werden, die sich über das Ausreiseverbot beschweren. "Es heißt, 'Schande über sie, sie sind keine Patrioten.' Aber wir wollen einfach arbeiten und unsere Familien ernähren." Außerdem, sagt er, spende er einen Teil seines Einkommens für Freiwillige und das Militär.

"Wenn ich einberufen werde, bin ich bereit"

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Mykola räumt ein, dass jeder Mann in der Ukraine - nicht nur die, die Wohnsitz und Familie im Ausland haben - sich der Frage stellen müsse, ob und wie er seinem Land dienen sollte. Er findet es schwierig, die Frage für sich zu beantworten: "Das ist nicht nur ein rechtliches Thema, auch ein emotionales. Man muss kritisch mit sich selbst sein. Ich würde einige Dinge für mein Land tun, andere nicht."

Pessimismus macht sich breit

Nachdem seine Frau die Ukraine verlassen hat, hält sich Andrej nun in Kiew auf, wo er die letzten zehn Tage in einem Hotel verbracht hat. Er sagt, er glaube nicht daran, die Ukraine in naher Zukunft verlassen zu können. Jeden Tag ruft er seine Frau an, um sie zu wecken, und ein zweites Mal, bevor er zu Bett geht. "Ich bin enttäuscht von Selenskyj und ich bin wirklich wütend auf die Regierung", sagt er.

Wie andere in seiner Situation verstehe er, warum die Regierung seinen Fall nicht bevorzugt behandelt. Er glaubt aber auch, dass er nicht zu viel verlangt: Man soll ihn einfach nach Hause gehen lassen.

Aus dem Englischen von Werner Schmitz