90 Künstler aus 34 Ländern - nur Putin will nicht
8. Juni 2021Ohne Frage ist es eine außergewöhnliche Ausstellung, die in Berlin eröffnet wurde. Eine Ausstellung der Superlative: Rund 90 Künstler aus 34 Ländern, gut 400 Werke, ausgestellt in drei riesigen Hangars des Flughafens Tempelhof. Gerhard Richter, Anselm Kiefer oder Georg Baselitz sind vertreten, ebenso Šejla Kamerić und Gilbert & George, Olafur Eliasson, Monica Bonvicini, Katharina Sieverding oder Boris Mikhailov. Die Kosten: im mittleren siebenstelligen Bereich. "Diversity United" lautet der Titel der Großausstellung, die sich ein nicht minder kleines Thema gesetzt hat: Europa.
Zugleich eine Ausstellung, die sich auch das politische Ziel der Gegenwartsbestimmung auf die Fahnen geschrieben hat. Es gehe ihnen, so schreiben es die Kuratoren, um "die Suche nach dem Wesen des komplexen, fragilen und sich wandelnden Projekts Europa". Und der Vorsitzende des Projektbeirates, Jürgen Großmann, betont zur Eröffnung der auf Vielfalt und Multiperspektivität ausgelegten Ausstellung, dass sie "auf eindrucksvolle Weise" zeige, dass Europa "weit mehr als die Summe politischer und ökonomischer Interessenlagen" darstelle. "Ein besseres Mittel gegen Nationalismus und Populismus in heutigen Zeiten kann es gar nicht geben."
Gerade die Bedeutung des letzten Satzes darf vor den jüngsten Entwicklungen nicht als eine leere Floskel abgetan werden, wie man sie sonst schon mal von Ausstellungseröffnungen kennt. Um das zu verstehen, braucht es einen kleinen Rückblick.
Eine Ausstellung "in Geiselhaft"?
"Diversity United" war als europäisches Projekt konzipiert. Nicht nur sollten Kunstschaffende aus verschiedensten Ländern in den Ausstellungsräumen vertreten sein und gemeinsam "das künstlerische Gesicht Europas" darstellen, wie die Ausstellung untertitelt ist. Die Ausstellung selbst sollte vielmehr durch das geografische Europa reisen. Anfänglich war die Eröffnung für November 2020 in Moskau geplant, wegen der Corona-Pandemie dann auf 2021 und nach Berlin verschoben worden. Der neue Plan: Nach der Eröffnung in Berlin sollte die Ausstellung nach Moskau und von dort nach Paris weiterziehen. Das Auswärtige Amt hat die Ausstellung finanziell unterstützt.
Besonders von russischer Seite haben viele Akteure an den Vorbereitungen mitgewirkt: Die Moskauer Tretyakov-Galerie galt zunächst mit dem Bonner Verein "Stiftung für Kunst und Kultur" als Hauptorganisator, jetzt wird sie wie der - 2001 von Gerhard Schröder und Vladimir Putin selbst initiierte - Petersburger Dialog noch als Kooperationspartner aufgeführt. Und: Das russische Staatsoberhaupt Vladimir Putin war anfangs ebenso Schirmherr der Ausstellung wie der deutsche Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier und der französische Präsident Emmanuel Macron.
Dementsprechend schockiert zeigten sich die verantwortlichen Organisatoren auf deutscher Seite jüngst, als Putins Staatsapparat nun faktisch Teile des Petersburger Dialogs verbot. Eine Zusammenarbeit mit den verbotenen Vereinen könnte Gefängnisstrafen nach sich ziehen. Walter Smerling, der Vorsitzende der Bonner Stiftung für Kunst und Kultur und die zentrale Figur hinter der Ausstellungsorganisation, sagte der Süddeutschen Zeitung, dass dieser Schritt der russischen Regierung nicht hingenommen werden könne und man sich die Präsentation der Ausstellung in Russland unter diesen Bedingungen nicht vorstellen könne.
Ausstellung als "Ausdruck des Selbstbewusstseins"
Unfreiwillig wurde die Ausstellung "Diversity United" so selbst zum Objekt der politischen Differenzen in Europa, in der die Umsetzung der im Titel beschworenen Einheit in Vielfalt durch die Wegnahme von Begegnungsräumen erschwert wird. Am Rande der Eröffnung in Berlin wurde jetzt noch einmal nachdrücklich davor gewarnt, dass die Ausstellung nicht "in Geiselhaft" genommen werden dürfe.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier reagierte bei der Eröffnung betont staatsmännisch. Er lobte die Vielfalt der abgebildeten Themen und deutete das als "Ausdruck des Selbstbewusstseins der Kunst und der Künstlerinnen und Künstler in Europa", die "bewusst grenzüberschreitend" arbeiteten. Eine Aussage, die vor dem Hintergrund einer drohenden Absage der Ausstellung in Moskau nicht mehr unpolitisch verstanden werden kann.
Die Frage nach staatlichen Eingriffen in zivilgesellschaftliche Plattformen wie den Petersberger Dialog verweist dabei aber auch auf die wichtige Rolle, die Kunst - in politischen Krisenzeiten mehr noch als sonst - einnehmen kann: Sie kann Begegnungsräume schaffen, in denen Ambivalenzen nicht nur ausgehalten, sondern ihnen sogar nachgespürt wird.
Ein symbolträchtiger Ort
Einen besseren Ort zur Eröffnung hätte sich die Ausstellung dabei übrigens nicht aussuchen können: Am Tempelhofer Flughafen wurden in der NS-Zeit Kriegsgefangene als Zwangsarbeiter für die Luftwaffe eingesetzt, später landeten und starteten hier die sogenannten "Rosinenbomber" und versorgten während der Blockade West-Berlins die Bevölkerung mit überlebenswichtigen Lebensmitteln und anderen Gütern. Und seit der Flughafen 2008 geschlossen wurde, haben sich verschiedene Initiativen dafür eingesetzt, den Flughafen zu einem Begegnungsort umzugestalten.
Weil er sich einer eindeutigen Bewertung entzieht, ist dieser symbolträchtige Ort europäischer Geschichte vielleicht genau der richtige Ort für eine Ausstellung, die sich Europa in Kategorien wie "Erinnerung und Konflikt", "Macht und Gleichheit", "Grenzen und Begrenzungen" oder "Erkenntnisse und Perspektiven" nähert.