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Tübingen zeigt Geschwister in der Kunst

21. November 2022

Rivalen oder Vertraute? Unter Geschwistern gibt es beides. Ein faszinierendes Thema für Kunstschaffende von der Antike bis heute, wie die Kunsthalle Tübingen zeigt.

Schwarz-weiß-Fotografie der vier Brown Sisters. In weißen Blusen stehen sie nebeneinander und lächeln in die Kamera.
Bilder der vier Brown-Schwestern, über Jahrzehnte immer wieder von Nicholas Nixon fotografiert, sind Teil der Ausstellung "Sisters & Brothers"Bild: Nicholas Nixon/Courtesy Fraenkel Gallery, San Francisco

Bisher waren Kain und Abel das prominenteste Geschwisterpaar. Laut Bibel erschlug Kain aus Eifersucht seinen Bruder Abel, weil Gott Abels Opfergabe bevorzugte. Der Kampf zweier Brüder fasziniert die Menschen bis heute. Viele Künstlerinnen und Künstler haben den Bruderzwist in Gemälden oder Skulpturen, Objekten und Videos aufgegriffen. Geschwisterbeziehungen sind noch immer ein beliebtes Motiv.

In der Ausstellung "Sisters & Brothers. 500 Jahre Geschwister in der Kunst" zeigt die Kunsthalle Tübingen Bilder von Brüdern und Schwestern. Rund 100 Werke aus nationalen und internationalen Museen, darunter der Tate Gallery in London oder des Belvedere in Wien, sollen das Thema ausleuchten, zeitlich beginnend mit dem 16. Jahrhundert. "Ob wir Einzelkinder sind oder Geschwister haben", so Ausstellungsmacherin Nicole Fritz im Katalog, "hat Auswirkungen auf unser gesamtes Leben." Umso überraschender, dass Geschwisterbeziehungen bislang wenig erforscht und nach Angaben der Veranstalterinnen und Veranstalter noch nie als Ausstellung thematisiert wurden.

Warum unsere Geschwister so wichtig für uns sind

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Geschwisterbilder aus 500 Jahren

Das möchte Nicole Fritz, die Leiterin der Kunsthalle, ändern. Anhand ausgesuchter Werke führt sie vor, wie sich die Geschwisterdarstellungen, analog zu gesellschaftlichen Entwicklungen in den letzten 500 Jahren verändert haben. Ein chronologischer Parcours führt durch die Ausstellung, die beim schönen Schein der Genremalerei im 16. Jahrhundert beginnt und über das romantische und bürgerliche Geschwisterbild bis zu Darstellungen der Gegenwart reicht.

Schon in der antiken und christlichen Mythologie wird das schwierige Verhältnis unter Geschwistern thematisiert. Für Streit sorgt fast immer die Rivalität um die Gunst der Eltern, was für Kain und Abel ebenso gilt wie für die ungleichen Brüder Esau und Jakob. Die Bibel erzählt, wie Esau für ein Linsengericht sein Erstgeborenenrecht an den jüngeren Bruder verkauft. Viele Künstler, darunter der niederländische Maler Rembrandt (1606-1669), malten oder zeichneten diese Szene. Nicht anders die Rivalität zwischen Romulus und Remus, die Gründer Roms, oder Kastor und Pollux, das Zwillingspaar aus der griechischen Mythologie: Stoffe wie diese setzte die Druckgraphik der Frühen Neuzeit gegen Ende des 15. Jahrhunderts ins Bild.

Bis ins 16. Jahrhundert dienten Geschwistergemälde als Anschauungsmaterial oder Erinnerungshilfe bei Hofe. Und nicht selten halfen sie bei der Eheanbahnung. Gut erkennen lässt das ein Florentiner Porträt, das die nackt im Bade sitzende Gabrielle d'Estrées und ihre Schwester zeigt. Eine der Frauen reicht der anderen ihren Ringfinger, ein Hinweis auf den fehlenden Ehering.

Kinderkult und Kinderporträts

Im 17. und 18. Jahrhundert wächst das Bürgertum. Neben Großfamilien entstehen auch Kleinfamilien. Familiäre Bindungen werden wichtiger, woraus ein regelrechter Kinderkult erwächst. Bürgerliche wie Adelige lassen ihre Sprösslinge nun vermehrt auf die Leinwand bannen. Das Geschwisterbild "Magdalena und Jan-Baptist de Vos, die Kinder des Malers" des Flamen Cornelis de Vos (1584-1651) etwa zeugt vom Aufschwung der niederländischen Genre- und Familienmalerei im 17. Jahrhundert.

Die Tübinger Schau greift auch den weit verbreiteten Freundschaftskult im 18. Jahrhundert auf. Dieser fügte dem Geschwisterbild besonders in England und Deutschland eine neue Variante hinzu. Die Porträtierten können - als Seelenverwandte - nun auch freundschaftlich verbunden sein, was Freundschaftsbilder der schweizerisch-österreichischen Künstlerin Angelika Kauffmann (1741-1807) ebenso zeigen wie Werke der englischen Maler Joshua Reynolds (1723-1792) und Thomas Gainsborough (1727-1788).

Eine typische Darstellung des 19. Jahrhunderts: Die Nichten Elisabeth und Maja des Malers Anton Romako in ÖlBild: Stiftung Dr. h. c. Imre von Satzeger, Enkel der Elisabeth von Satzeger/Foto: Belvedere, Wien

Mit der Industrialisierung im westlichen Europa des 19. Jahrhunderts entstehen immer mehr bürgerliche Kleinfamilien. Es herrscht eine klare Rollenverteilung: Die Frau an Heim und Herd, der Mann als Versorger der Familie. Eine neue Kinderkultur entsteht. In den Geschwisterbildern dieser Zeit kümmern sich tugendhafte Schwestern nach dem Vorbild der Mutter um die Geschwister. Das Gemälde "Sorgsame Schwester" des österreichischen Historien- und Genremalers Karl Böheim (1830-1870) zeigt eine künstlerische Sicht der Verhältnisse.

Geschwister als Schicksalsgemeinschaft

Mit Beginn der Moderne Anfang des 20. Jahrhunderts hat die idyllische Geschwisterdarstellung ausgedient. Noch unter dem Eindruck des Ersten Weltkrieges und im Angesicht des aufkeimenden Nationalsozialismus schaut die Künstlerschaft, wie Ausstellungsmacherin Nicole Fritz erläutert, nun genauer auf Wesen und seelische Befindlichkeiten der Porträtierten.

Je krisenhafter die Zeit, desto mehr rücken Geschwister als Schicksalsgemeinschaft ins Bild, die sich gegenseitig stärken und beschützen. Trauer und Leid werden zum Thema, manchmal verstorbene Geschwister. Die Künstlerin Emy Roeder (1890-1971) etwa greift die Schicksalsgemeinschaft in Zeichnungen und Skulpturen auf, Erich Heckel (1883-1970) in seinem Holzschnitt "Geschwister" (1913). Otto Dix (1891-1969), später von den Nazis verfemt, malt sein Bild "Spielende Kinder" (1929).

Rivalen - Wenn die Verwandtschaft Ärger macht

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Nach dem Zweiten Weltkrieg wandelt sich die Geschwisterdarstellung abermals. In der DDR wie in Westdeutschland verwenden Künstlerinnen und Künstler biblische Motive wie Kain und Abel, um Kriegserfahrungen zu verarbeiten. In der sozialistischen DDR und in China muss das Geschwistermotiv zu Propagandazwecken herhalten. Daran erinnert der chinesische Malers Li Luming in seinem Werk "Seven Sisters" von 2007: Sieben strahlende Bäuerinnen preisen mit ihrem Lächeln die Kulturrevolution (1966-1976) im Land der Mitte.

In der Kunst unserer Tage schließlich spiegeln Geschwisterdarstellungen mal persönliche, mal gesellschaftliche oder politische Ereignisse wider. Thomas Schütte etwa kommentiert den Mauerfall von 1989 ironisch: Bei seiner Skulptur "Vier Schwestern im Bad" sitzen sich Ost und West, Nord und Süd in einem Swimming-Pool gegenüber. Die US-Fotografin Cindy Sherman spielt mit bürgerlicher Selbstinszenierung, während der Konzeptkünstler Christian Jankowski das Geschwistermotiv in einer Familienaufstellung erkundet.

In 500 Jahren Kunstgeschichte lässt sich das Geschwistermotiv wie ein Seismograph gesellschaftlicher Veränderungen lesen. Es ist ein Thema, das alle angeht und berührt - auch die Einzelkinder.

Die Ausstellung "Brothers & Sisters. 500 Jahre Geschwister in der Kunst" in der Tübinger Kunsthalle läuft noch bis zum 16. April 2023.

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