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Autorin Elif Shafak: "Die Türkei hat Rückschritte gemacht"

Sabine Peschel
23. Oktober 2016

Elif Shafak nimmt kein Blatt vor den Mund - weder in ihren Büchern noch im Leben. Im Interview zeigt sie sich bestürzt über die jüngsten Ereignisse in der Türkei, aber hoffnungsvoll für eine demokratische Zukunft.

Elif Shafak
Bild: picture-alliance/dpa/K.Lütscher

DW: 2008, als die Türkei Ehrengast der Frankfurter Buchmesse war, waren Sie der Star der türkischen Delegation. Spüren Sie eine veränderte Stimmung?

Elif Shafak: Ja, das tue ich. In dem Sinne, dass 2008 wesentlich optimistischer auf die Demokratie in der Türkei geschaut wurde – auch, wenn es damals schon große Probleme gegeben hat. Ich denke, wir haben Rückschritte gemacht, erst allmählich, und dann rasant. Heute sind wir als türkische Schriftsteller, Dichter, Journalisten und Intellektuelle demoralisiert. Die Stimmung ist viel schlechter geworden.

Die deutsch-türkischen Beziehungen haben sich stark verändert. Die Entscheidung des Bundestages, die Gräuel an den Armeniern als Völkermord zu bezeichnen, hat einen Konflikt ausgelöst. Die türkische Regierung protestierte vehement dagegen. Hat das deutsche Parlament richtig gehandelt?

Die Türkei und die EU sollten nicht zu weit auseinander driften, meint Autorin ShafakBild: picture-alliance/MAXPPP/C. Petit Tesson

Ich habe in meinen Publikationen über die Jahre meine Einstellung zu diesem sehr wichtigen Thema deutlich gemacht. Ich habe Artikel geschrieben, ich bin öffentlich aufgetreten, und ich habe den Roman "Der Bastard von Istanbul" geschrieben, für den ich angeklagt wurde, weil ich das Wort "Genozid" in dem Mund nahm. Wegen meiner kritischen Haltung in diesem Buch wurde mir "Beleidigung des Türkentums" vorgeworfen.

Ich wurde freigesprochen, aber zwei Jahre lang musste ich mich von Bodyguards beschützen lassen. Das ist also ein Thema, an dem mir als Schriftstellerin sehr viel liegt.

Die Verantwortung für eine bessere Zukunft liegt bei den Intellektuellen

Mein Ansatz ist immer konstruktiv. Ich wünsche mir Frieden und Harmonie zwischen Armeniern und Türken. Ich möchte, dass die Zukunft besser wird, als die Vergangenheit es war. Ich glaube, dass besonders türkische Intellektuelle Verantwortung dafür tragen. Die Türkei ist eine Gesellschaft kollektiver Amnesie. Erinnerung ist Verantwortung. Wir müssen über beides reden: über schöne Zeiten und über die Grausamkeiten der Vergangenheit. Nicht, um noch mehr Betroffenheit oder Rachegefühle zu erzeugen, sondern um den Kummer der Leute auf eine sehr menschliche Art zu teilen. Wenn wir Türken uns erinnern, können die Armenier ein wenig vergessen.

Warum haben Sie vor 15 Jahren begonnen, Ihre Bücher auf Englisch zu verfassen?

Englisch ist eine erworbene Sprache für mich. Ich habe mit zehn Jahren angefangen, Englisch zu lernen. Zu dieser Zeit war das meine dritte Sprache.

Sie wurden in Straßburg geboren…

Ja, und dann kam ich in die Türkei, wo ich damals bei meiner Großmutter aufgewachsen bin. Als ich zehn war, sind wir dann mit meiner Mutter nach Spanien gezogen. Ich habe Spanisch gelernt, ehe ich Englisch gelernt habe. Aber die englische Sprache blieb bei mir. In meinem Kopf und in meiner Seele bin ich immer zwischen den Sprachen hin und her gependelt. Ich bin eine Pendlerin. In einer anderen Sprache zu schreiben, gibt mir zusätzlich Freiheit, eine zusätzliche Art zu denken. Es ist eine Herausforderung, aber ich mag Herausforderungen.

Mit der Zeit merkte ich, dass ich es vorziehe, bei Themen wie Humor, Ironie, Satire auf Englisch zu schreiben. Wenn ich über Kummer, Schwermut, Sehnsucht schreibe, dann tue ich das lieber auf Türkisch. Jede Sprache übt eine eigene Kraft auf mich aus, und ich fühle mich mit beiden verbunden und zu beiden hingezogen: Türkisch und Englisch. Ich träume in mehr als einer Sprache.

Der englische Titel Ihres neuen Buches lautet "Three Daughters of Eve". Auf Deutsch wird der Titel übersetzt mit "Der Geruch des Paradieses". Haben Sie den Titel selbst ausgesucht?

Ich habe den Titel zusammen mit meinem deutschen Verleger gewählt. Ich mag den deutschen Titel, weil er so poetisch ist. Die Titel und Cover von Büchern können sich von Land zu Land unterscheiden. Ich gehe mit diesem Thema schon immer sehr gelassen um. Auf Englisch und Türkisch heißt es wegen der drei Mädchen in der Geschichte "Three Daughters of Eve". Ich nenne sie die Sünderin, die Gläubige und die Verwirrte.

Die Stimmung ist angespannt nach dem Putschversuch am BosporusBild: picture-alliance/dpa/E.Ozturk

Das Buch liest sich wie eine poetische Diskussion über westliche demokratische Vorstellungen und den östlichen kulturellen Islam. Haben Sie immer noch Hoffnung, dass diese beiden Seiten in Frieden nebeneinander leben können in der Türkei?

Ich denke, dass es natürlich für eine Person möglich ist, gleichzeitig Muslim und Demokrat zu sein. So wie es genauso gut möglich für einen Christen oder Juden ist, Demokrat zu sein. Und es ist möglich für ein Land, in dem die Mehrheit muslimisch ist, eine Demokratie einzuführen – eine pluralistische Demokratie mit liberal-demokratischen Werten. Aber das erfordert Arbeit. Das erfordert, sich ernsthaft liberal-demokratischen Werten zu widmen. Und in der Türkei haben wir das noch nicht getan. Im Gegenteil: Wir haben Rückschritte gemacht.

Die Geschehnisse in der Türkei haben Auswirkungen

Und das ist eine solche Schande, weil die Geschehnisse in der Türkei auch Auswirkungen außerhalb der Türkei haben. Ich bin traurig, aber ich habe auch Hoffnung, dass natürlich auch Länder mit einer muslimischen Mehrheitsgesellschaft ihre Demokratie verbessern und dass dort unterschiedliche Religionen in Frieden nebeneinander leben können – das ist möglich!

In der Türkei führt Ihr Roman die Bestsellerlisten an. Wer liest Ihr Buch?

Meine Leserschaft ist sehr divers. Ich habe in der Türkei 15 Bücher veröffentlicht. Zehn davon sind Romane. Mit jedem meiner Bücher hat sich meine Leserschaft vergrößert und wurde immer diverser. Und das ist interessant, denn die Türkei ist ein stark polarisiertes Land. Die Menschen dort teilen nicht viele Dinge miteinander. Kunst und Literatur bilden da eine wichtige Brücke.

Mit ihren Büchern erreicht Shafak viele ganz unterschiedliche Frauen Bild: Kein & Aber

Es gibt viele Frauen mit ganz unterschiedlichen Hintergründen, die meine Bücher lesen: Türkinnen, Kurdinnen, Armenierinnen, Jüdinnen, Alevitinnen. Kulturell und ideologisch sind sie ganz unterschiedlich: Sie sind Feministinnen, Liberale, Linke. Aber ich habe auch viele konservative Leserinnen, die Kopftuch tragen. Aber die Tatsache, dass Menschen, die nicht miteinander sprechen, dieselben Bücher lesen, ist mir sehr wichtig.

Gerade einmal vor ein paar Jahren schien man in der Türkei optimistisch in die Zukunft zu blicken. Nun wurde der Ausnahmezustand verlängert. Was bedeutet das für Schriftsteller?

Seit mehreren Jahren schon befindet sich unsere Demokratie im Verfall, und die Autoren haben das zum Ausdruck gebracht. Die Demokraten in der Türkei fühlen sich einsam, und manchmal fühlen wir uns verlassen. Die Türkei ist ein stark polarisiertes und extrem politisiertes Land. Der Putschversuch diesen Sommer war entsetzlich. Er war sehr, sehr falsch.

Nun haben wir Säuberungen. Und Menschen, die nichts mit dem Putschversuch zu tun hatten, werden angeklagt, Mitverschwörer zu sein. Die Razzien treffen gerade Journalisten, Schriftsteller und Intellektuelle sehr hart. Ich bin mit Schriftstellern befreundet, die gerade im Gefängnis sitzen.

Die EU-Mitgliedschaft ist in weite Ferne gerückt

Vor ein paar Jahren wurde die Türkei noch als Vorbild betrachtet, das möglicherweise eine Brücke zwischen dem Nahen Osten und Europa bilden könnte. Dieses Bild hat sich komplett gewandelt. Gibt es überhaupt noch Hoffnung für die Türkei und Europa?

Das ist ein sehr wichtiges Thema. Es ist Jahre her, um 2005, da gab es einen goldenen Moment. Es schien, als wäre es fast möglich, als könnte die Türkei Mitglied der EU werden. Und die Unterstützung in der Türkei für einen EU-Beitritt lag um die 82 Prozent. Es war unglaublich – die Zeitungen, die Begeisterung. Aber es lief anders. Ich werfe der türkischen Regierung vor, dass sie die EU-Beitrittskriterien nicht erfüllt  hat. Aber ich kritisiere ebenso die populistischen Politiker in Europa, Distanz zur Türkei aufgebaut zu haben. Gerade in Frankreich war das der Fall.

Und was ist seit 2005 geschehen? Die Türkei wurde mehr und mehr isoliert, abgekapselt und autoritär. Hat das Europa geholfen? Nein. Hat das den türkischen Demokraten geholfen? Nein. Hat das der Region geholfen? Nein. Auf lange Sicht ist es besser, wenn die Türkei an die europäischen Grundwerte einer liberalen, pluralistischen Demokratie gebunden ist. Die Türkei muss im Dialog mit der EU ermutigt werden.

Wir können die Regierung kritisieren und gleichzeitig das Volk ermutigen. Ich weiß, dass es gerade nicht besonders realistisch ist, über eine EU-Mitgliedschaft zu reden, aber wir müssen die Hoffnung darauf am Leben halten. Sonst erzählen die türkischen Nationalisten und Isolationspolitiker den jungen Türken: "Schaut, Europa schert sich nicht um uns, lasst uns uns lieber Russland oder Pakistan oder Saudi Arabien zuwenden."

Ich muss leider sagen, dass es in Deutschland starke populistische Tendenzen gibt – ebenso in Ungarn und Polen. Können Sie die Menschen verstehen, die solchen populistischen Wortführern folgen?

Empathie ist eines der Kernthemen eines Schriftstellers. Ich muss verstehen können, warum ein – sagen wir –  normaler, gutherziger, besorgter Amerikaner, Deutscher oder Pole aus der Mittelklasse Rechtsaußen wählt. Ich muss das verstehen. Wenn wir es nicht verstehen, werden wir diese Leute verlieren. Wir dürfen das Gespräch mit ihnen nicht abreißen lassen. Viele Menschen haben Zukunftsängste. Manche Menschen haben Angst vor Migranten, vor dem Islam, vor "dem Anderen". Das ist verständlich. Gefährlich wird es, wenn diese Angst die Politik leitet. Die Geschichte ist voll von solchen Beispielen. Also, lasst uns die Ängste verstehen, aber erlaubt den Ängsten nicht zu dominieren. Und dafür benötigen wir ein besseres, radikaleres, humanistisches Narrativ, das den Menschen sagt: "Es ist in Ordnung, Ängste zu haben. Lasst uns über unsere Ängste sprechen, aber lasst uns eine bessere Lösung finden."

Für mich ist Vielfalt sehr wichtig. Kosmopolitismus ist sehr wichtig. Ich mache mir Sorgen über die Zunahme von Populismus, Fremdenfeindlichkeit, Tribalismus. Und ich bin ebenso über den neuen Trend zu illiberalen Demokratien besorgt, zu denen auch die Türkei gehört. Dies sind Demokratien, die in ihrem Wesen deutlich autoritär geprägt sind. Ungarn, Polen, Türkei – ein Land nach dem anderen nimmt diesen Weg. Wir müssen über illiberale Demokratien reden – und über die Gefahren, die von ihnen ausgehen. 

Interview: Sabine Peschel. Übersetzung: Laura Döing. 

 

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