Bücher, die von der Wende erzählen
2. Oktober 2015Die Zeit des Umbruchs der Systeme, die Zeit nach dem Mauerfall und dem faktischen Ende der DDR als "Arbeiter- und Bauernstaat" hat ihren Niederschlag in zahlreichen Romanen und biografischen Büchern gefunden. Mehr aus ostdeutscher, denn aus westlicher Sicht. Einer der wenigen Wenderomane aus westdeutscher Perspektive: "Herr Lehmann" (2001) von Sven Regener, dem Sänger und Gründer der deutschen Band "Element of Crime".
Spielort ist Berlin-Kreuzberg. Herr Lehmann säuft sich durch die Kneipengemeinde und erlebt die Irrungen und Wirrungen der letzten Monate vor dem Mauerfall. Punktgenau läuft die Geschichte auf den Abend des 9. Novembers 1989 zu. Mehr als "Ach du Scheiße" fällt seinem Romanhelden nicht ein, als jemand am Tresen erzählt, die Grenze sei offen. Mit diesem lakonischen Befund endet das Buch. Regisseur Leander Haussman hat den Roman 2003 verfilmt, inzwischen ist das ein Kultfilm zur Wende.
Gestrandete des "Arbeiter- und Bauernstaates"
Lutz Seiler (*1963) ist eigentlich Lyriker. Er schreibt Gedichte, keine Prosa. "Kruso" (2014), für den er im letzten Jahr den Deutschen Buchpreis bekommen hat, ist sein erster Roman. Eine menschliche Versuchsanordnung. Seiler erzählt darin die Geschichte von einem der auszog, den grauen DDR-Alltag zu vergessen. Schauplatz seines Romans ist die Insel Hiddensee, Rückzugsort für viele Intellektuelle und Künstler in den Zeiten vor der Wende.
Die Freundin des Romanhelden Bendeler (Ed) ist ums Leben gekommen. Er sucht auf der Insel einen Neuanfang - und trifft dort auf einen Kreis von Aussteigern und transzendental Obdachlosen – "Schiffbrüchige" und Gestrandete des Systems DDR, wie Seiler schreibt. Im Mittelpunkt: Kruso, der heimliche Anführer, für Ed bald Guru und Pate zugleich. Es sind die Tage kurz vor dem Fall der Mauer. Ed ist geschockt, als er erfährt, warum dieser Fluchtpunkt für Ausreisewillige zum Verhängnis geworden ist, viele ertranken in den Fluten der Ostsee. Ein Buch über das Wendejahr 1989, in dem Freundschaften hart auf die Probe gestellt wurden.
Mentalitätsgeschichte DDR
Was die DDR für Schriftsteller so interessant gemacht hätte, sei ihre Sozial- und Gesellschaftsgeschichte, die mit der BRD nicht vergleichbar war, sagt Literaturkritikerin Maike Albath in einem DW-Interview. "Daran kann man historische Brüche und einen Systemwechsel wunderbar erklären. Und man kann ihn dadurch nachvollziehen." Der Schriftsteller Uwe Tellkamp hat darüber den "Wenderoman" schlechthin geschrieben. Für sein DDR-Epos "Der Turm" (2008) wurde ihm mit viel Vorschuss-Lorbeeren der Deutsche Buchpreis "für die beste deutschsprachige Neuerscheinung" des Jahres 2008 zuerkannt.
Auf fast 1000 Seiten entwirft Tellkamp ein monumentales Gesellschaftspanorama der zerfallenden Deutschen Demokratischen Republik. Schauplatz seines Romans ist Dresden, die Heimatstadt des Autors, Ende der 1980er Jahre. Im Mittelpunkt steht eine gutbürgerliche Medizinerfamilie. "Den Lesern erschließen sich wie nie zuvor Aromen, Redeweisen und Mentalitäten der späten DDR", begründet die Buchpreisjury ihre Entscheidung für Tellkamp. Der Autor kam während seines Medizinstudiums zum Schreiben. Nach der Wende geht er für eine Zeit nach New York, 2004 gibt er den Arztberuf endgültig auf. Sein Roman ist stark autobiografisch geprägt, wie er gern anmerkt, "zumindest zu 34,75 Prozent".
Schreiben als Wendepunkt
Mit dem Mauerfall und dem Wegfall des Eisernen Vorhangs quer durch Europa verloren viele DDR-Schriftsteller der älteren Garde nicht nur ihre gesellschaftliche Position, sondern auch ihr literarisches Bezugssystem. Die Schriftstellerin Christa Wolf (1929-2011) reagierte auf den politischen und kulturellen Umbruch nach der Wende mit Schweigen. Erst nach ein paar Jahren konnte sie mit ihrem Roman "Medea" (1996) auf die Ereignisse antworten. Mit Hilfe von Figuren und Begebenheiten aus der klassischen griechischen Tragödie, thematisierte Wolf indirekt das Ende der reformunwilligen DDR und die auf das "Gold" und den Profit fixierte BRD. Ein sehr verschlüsselter Wenderoman.
Ein Jahr zuvor hatte sich der Schriftsteller Günter Grass (1927-2015) mit seinem Roman "Ein weites Feld" (1995) zu Wort gemeldet. Aus der Ich-Perspektive eines Potsdamer Archivars zeichnete Grass darin ein historisches Panorama der deutschen Geschichte von der Revolution 1848 bis hin zur Wiedervereinigung 1990. Das Zitat seines Romanhelden "Wir lebten in einer kommoden Diktatur" wird in der Nachwendezeit zum geflügelten Wort für die untergegangene DDR. Das Buch des in Danzig geborenen Literaturnobelpreisträgers löste eine heftige öffentliche Debatte im In- und Ausland aus. Die Auflage schnellte dadurch in kürzester Zeit in die Höhe.
Familiendrama als Roman
Als im August 1961 in Berlin die Mauer gebaut und innerdeutsche Grenze vollständig abgeriegelt wurde, wurden auch Familien und Freundschaften durch den "Eisernen Vorhang" auseinandergerissen. Die Journalistin Marion Brasch, jüngste Schwester des berühmten DDR-Dramatikers und Schriftstellers Thomas Brasch, hat eine zerrissene Familienbiografie geschrieben – als Roman aus DDR-Perspektive. In ihrem Buch "Ab jetzt ist Ruhe“. Roman meiner fabelhaften Familie" (2012) erzählt sie von einer privilegierten Familie "voller existentieller Brüche" – der Vater war ranghoher Parteifunktionär - "in der viel gestritten wurde und die am Ende verschwindet."
Sie schreibt als "letzte Überlebende". Aus der Distanz der jüngsten Tochter erlebt sie, wie ihre drei Brüder – jeder auf seine Weise – an Vater und Staat, gegen die sie lebenslang opponierten, scheitern. Alle drei sind tot. "Ich habe mich lange gedrückt, weil ich nicht wusste, wie ich diese Geschichte schreiben soll. Eine Biografie zu schreiben schien mir zu groß, zu bedeutend, mit einem zu hohen Anspruch an Wahrheit, Authentizität", sagt die Autorin.
Chronist des Umbruchs
Der Schriftsteller Ingo Schulze, 1962 in Dresden geboren, gilt als einer der literarischen Chronisten der deutschen Wiedervereinigung. Er kam über den Journalismus zum Schreiben. Mit "Neue Leben" (2005) veröffentlicht Schulze einen altmodisch anmutenden Briefroman, der die Lebensgeschichte des Zeitungsredakteurs Enrico Türmer erzählt – gespiegelt in den Briefen an einen Freund, an seine Schwester und eine heimliche Geliebte.
Völlig unpathetisch setzt Schulze darin ein Gesellschaftsbild des Jahres 1989 auf DDR-Seite zusammen. In seinem Buch "Adam und Evelyn" (2008) beschäftigte er sich noch einmal mit der Umbruchzeit der deutschen Wiedervereinigung. Auch dieser Roman fand großes Interesse im Ausland, wurde in 22 Sprachen übersetzt und erschien sogar in Abu Dhabi und Südkorea.
Kalte Krieger als Witzfigur
Nach der Wende trat eine junge Generation ostdeutscher Schriftstellern ins literarische Rampenlicht, die noch nicht im Literaturbetrieb der DDR etabliert waren. Der DDR-Mentalität näherten sie sich mit Witz und schonungsloser Ironie. Thomas Brussig, 1964 in Ost-Berlin geboren, ist einer der inzwischen bekanntesten Autoren dieser Jahrgänge, die im Westen und im Ausland vor der Wende nicht weiter bekannt waren.
Fünf Jahre nach dem Mauerfall schreibt er den Roman "Helden wie wir" (1995), sein Durchbruch auf dem Buchmarkt. Er nimmt ungeschminkt die "Kriegsversehrten des Kulturbetriebes" auf Korn, die auch nach dem Ende der Deutschen Demokratischen Republik an ihren linken Utopien festhalten. Eine satirische Abrechnung mit den eklatanten Missständen in der ehemaligen DDR. Auch die "Mythen der Wende" lässt er nicht ungeschoren davon kommen.
Heimatverlust und Identitätskrise
Gleich sein Debütroman "Als wir träumten" (2006) katapultierte Clemens Meyer (*1977) in die viel beachtete Riege der ostdeutschen Nachwuchs-Schriftsteller. Die Kunst filmreife Dialoge zu schreiben, lernt er am renommierten Literaturinstitut in Leipzig. In seinem Buch lässt er das Lebensgefühl einer verlorenen Generation aufleben. 2014 wurde der Roman von Regisseur Andreas Dresen fürs Kino verfilmt. "Was wir wollten war Kontakt zu schnellen Autos, zu Holsten Pils und Jägermeister. Wir waren um die fünfzehn damals…"
Für Meyer ist der krasse Wechsel seiner Roman-Protagonisten von der DDR-Kindheit in die BRD-Jugend exemplarisch für den kulturellen Umbruch in Gesamtdeutschland. 1990 ist er 13, deshalb lehnt er das Etikett "Wenderoman" für sich auch ab. Der Wegfall des Kollektiv-Auftrags "Genosse sein, heißt Kämpfer sein" lässt in seinem Buch junge Menschen auf einen Schlag im Regen stehen. Das Wertesystem kommt beiderseits der plötzlich offenen Mauer ins Rutschen. Übrig blieb "Brachland", wie Meyer schreibt - in den Köpfen, in den Städten, das existiert bis heute.