1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

"Die Zahl der gefundenen Leichen wächst täglich"

7. April 2022

Die örtlichen Behörden wollen das Leben in Butscha wieder in Gang bringen, doch noch rufen sie dazu auf, nicht in die Stadt zurückzukehren. Bürgermeister Anatolij Fedoruk schildert der DW die Lage.

Ukraine | Grab von zwei Zivilisten in Butscha
Gräber von Zivilisten in einem Hinterhof in ButschaBild: Felipe Dana/AP/dpa/picture alliance

In dem Kiewer Vorort Butscha im Nordwesten der ukrainischen Hauptstadt lagen nach dem Abzug der russischen Armee Leichen erschossener Bürger auf den Straßen. Die Rede ist von Kriegsverbrechen. Gefunden wurden auch Massengräber mit gefolterten Menschen. Die Infrastruktur ist zerstört und nur langsam kehrt in der Stadt wieder Leben ein. Die DW hat mit dem Bürgermeister von Butscha, Anatolij Fedoruk, darüber gesprochen, was derzeit in seiner Stadt passiert.

DW: Herr Fedoruk, wie ist die Lage in Ihrer Stadt?

Anatolij Fedoruk: Den vierten Tag in Folge sind Spezialisten damit beschäftigt, die Saboteure aufzuspüren und Minen  zu beseitigen. Die Stadtwerke stellen die Infrastruktur wieder her, vor allem die Versorgung mit Strom, Gas und Wasser. Es gibt auch humanitäre Fragen, um die wir uns kümmern. Wir haben die Lieferung von Lebensmitteln, Medikamenten, Hygieneprodukten und Tierfutter organisiert. Da es weder Gas noch Strom gibt, haben wir 1000 Gasflaschen und Gasherde angeschafft und lokale Standorte eingerichtet, wo Menschen das Essen vorbereiten können. Wir vergeben Gasherde und Gasflasсhen dort, wo viele Menschen dicht beieinander leben. Wir haben auch Zuständige für die Küchen ernannt.

Wie viele Menschen lebten vor dem Krieg in der Gemeinde, insbesondere in Butscha, und wie viele sind es jetzt?

Butscha hatte 50.000 Einwohner. In der Gemeinde, zu der auch die umliegenden Dörfer gehören, lebten 67.000 Menschen. Zurzeit sind es 3700 Einwohner in Butscha, aber ihre Zahl nimmt langsam zu, da Einsatzkräfte für wichtige Infrastrukturen zurückkehren. In den anderen Orten der Gemeinde ist die Einwohnerzahl um 30 Prozent zurückgegangen.

Bürgermeister Anatolij Fedoruk (Mitte) in einer Kirche in ButschaBild: Pressestelle der Stadtverwaltung der Stadt Bucha

Gestern war ich in Sdwyschywka. Dort sind von 1780 Dorfbewohnern 760 geblieben. Leider wurden dort sechs Zivilisten von den russischen Besatzern erschossen. Die Dörfer im Norden der Region Kiew wurden gleich am ersten oder zweiten Tag des Krieges besetzt und die Menschen konnten nicht mehr fliehen. Aber sie unterstützten sich gegenseitig, verteilten Lebensmittel, Medikamente und überlebten so die Besatzung.

Ist die genaue Zahl der Toten in Butscha und in der Gemeinde insgesamt schon bekannt?

Bisher sind es 320 Zivilisten. Experten, Kriminologen und Ermittler untersuchen jetzt die Opfer, aber die Zahl der gefundenen Leichen wächst täglich. Sie werden auf Privatgrundstücken, in Parks und auf Plätzen gefunden, wo man in Pausen des Beschusses Leichen begraben konnte. Die Menschen wollten sie begraben, damit die Leichen nicht von Hunden gerissen werden. Jeden Tag finden wir weitere provisorische Bestattungen in den Dörfern unserer Gemeinde.

Sind die Menschen durch Erschießung oder Artilleriebeschuss getötet worden?

Fast 90 Prozent haben Schusswunden, also keine Verwundungen durch Splitter.

Die schrecklichen Bildern der Massengräber schockieren die Welt. Wie viele solcher Gräber wurden in Butscha gefunden?

In Butscha wurden drei entdeckt: Auf dem Gelände eines landwirtschaftlichen Zulieferbetriebes, wo die russischen Besatzer die Leichen von Menschen mit gefesselten Händen wie Brennholz gestapelt hatten, dann in der Woksalna- und Jablunska-Straße und bei einem Erholungsheim für Kinder, wo auch Menschen mit gefesselten Händen und Schusswunden gefunden wurden.

Waren Sie zum Zeitpunkt der Besetzung in der Stadt? Haben Sie selbst gesehen, wie Zivilisten erschossen wurden?

Sowohl vor als auch während der Besetzung war ich in der Gemeinde, so wie es sich auch gehört. Persönlich habe ich drei Fälle an einem Ort gesehen. Ich war in einem Privathaus, in dessen Nähe geschossen wurde. Das war in der Lech-Kaczynski-Straße. Dort war ein Kontrollpunkt der russischen Besatzer und sie haben drei Autos einfach zerschossen. In einem saßen ein Mann, seine schwangere Frau und zwei Kinder. Nur der Mann überlebte. Er bestattete seine schwangere Frau in einem Schützengraben, den die russischen Besatzer ursprünglich für sich als Unterschlupf ausgehoben hatten. Anstelle eines Kreuzes stellte der Mann das Nummernschild seines Autos dort auf. Die Leichen der Kinder wurden zur Kirche gebracht und dort begraben. Ich weiß nicht, ob der Mann noch lebt und wie es jetzt um ihn steht.

Eines der Massengräber in Butscha, entdeckt nach dem Rückzug russischer TruppenBild: Rodrigo Abd/AP/picture alliance

Werden die Verbrechen dokumentiert - wer die Opfer sind und wie sie umgekommen sind? Sind Vertreter des Internationalen Strafgerichtshofs beteiligt?

Alle zuständigen internationalen und ukrainischen Stellen sind daran beteiligt, die Namen aller erschossenen Personen zu ermitteln - vor allem, um anhand der Ergebnisse die Täter vor Gericht stellen zu können.

Wird in der Stadt geplündert?

Die Nationalpolizei patrouilliert auf jeder Straße und es gibt keine Plünderungen. So etwas können sich unsere Bürger nach ihren Erfahrungen auch gar nicht vorstellen.

Gibt es vorläufige Schätzungen darüber, wie viele Häuser in der Stadt zerstört wurden?

112 Privathäuser wurden vollständig zerstört und können nicht wieder aufgebaut werden, etwa 100 weitere wurden beschädigt. Außerdem wurden 18 Wohnblöcke durch Artillerie schwer beschädigt und sind ausgebrannt. Zwei von ihnen, Plattenbauten, können nicht mehr instand gesetzt werden. Aber Experten werden später ausführlicher erläutern, was wieder hergerichtet werden kann und was abgerissen werden muss.

Wie stark ist die Infrastruktur von Butscha zerstört?

Die wichtigste Infrastruktur an den Zufahrten zur Stadt und in der Stadt selbst ist praktisch völlig vernichtet. Am dritten Kriegstag zerstörten die russischen Besatzer das Umspannwerk, das sowohl die Stadt als auch die ukrainische Eisenbahn mit Strom versorgte. Das Umspannwerk kann nicht wieder aufgebaut werden, es muss ein neues her. Was die Wasserversorgung betrifft, so hat die Stadt eine gewisse Besonderheit, denn die drei Bezirke hatten drei Systeme. Das zentrale ist außer Betrieb und Schweißer schließen jetzt die Lücken in den Leitungen, die durch den Beschuss entstanden waren.

Zerstörungen in ButschaBild: Maxym Marusen/ZUMA Press/IMAGO

Wie lange wird es brauchen, die Infrastruktur der Stadt wiederherzustellen?

Wir tun alles, damit dies so schnell wie möglich geschieht. Wir hatten die Tage bis zur Befreiung durch die ukrainische Armee gezählt. So ist es auch jetzt, wir können es kaum erwarten, dass die Stadt wieder zum Leben erwacht. Wir geben uns alle Mühe.

Viele Menschen wollen nach Hause. Wann dürfen sie zurück nach Butscha?

Derzeit gilt in Butscha eine Ausgangssperre bis einschließlich 7. April. Was danach beschlossen wird, ist noch unklar. Aber ich rate Zivilisten, die nicht im kommunalen, medizinischen oder sozialen Bereich tätig sind, erst dann zurückzukehren, wenn eine endgültige Entscheidung fällt. Dies gilt insbesondere für Frauen und Kinder. Denn in der Stadt gibt es noch keinen Strom, kein Wasser und kein Gas.

Das Gespräch führte Lilia Rzheutska.

Den nächsten Abschnitt Mehr zum Thema überspringen