Wende in der Eurokrise?
22. Mai 2012Gut ein Jahrzehnt lang ging es den deutschen Gewerkschaften weniger um Lohnprozente als um die Sicherung von Arbeitsplätzen. Mit ihren moderaten Lohnabschlüssen trugen sie unfreiwillig dazu bei, dass sich die Ungleichgewichte in der Eurozone dramatisch verschärften: Deutschland gewann zunehmend an Wettbewerbsfähigkeit, während die Arbeitskosten in den südlichen Peripherieländern infolge eines schuldenfinanzierten Booms dramatisch anstiegen.
Das Ergebnis ist bekannt: Die südlichen Peripherieländer müssten eigentlich ihre Währung abwerten, um wieder wettbewerbsfähiger zu werden, können das aber nicht, weil sie den Euro haben. Schon früh erinnerte Christine Lagarde daran, dass es auch einen zweiten Weg gibt: Deutschland solle sich mehr Konsum und höhere Löhne leisten, hatte die Chefin des Internationalen Währungsfonds IWF angeregt, als sie noch Frankreichs Finanzministerin war.
Heftige Diskussionen
Das löste seinerzeit eine heftige Diskussion aus: Soll Deutschland absichtlich sein Niveau herunterschrauben, um die Spannungen in der Eurozone abzumildern? Auf keinen Fall, argumentierten Ökonomen. Denn damit würde der Druck von den südlichen Peripherieländern genommen, selbst für mehr Wettbewerbsfähigkeit zu sorgen.
Inzwischen aber haben sich die Zeiten geändert. “Wir sehen eine Zeitenwende bei den Löhnen“, sagt Jörg Krämer, Chefvolkswirt der Commerzbank. Spanien und Portugal werden ihren Verlust an Wettbewerbsfähigkeit gegenüber anderen Euroländern in drei Jahren vollständig aufgeholt haben, sagte Krämer Anfang Mai voraus. Er begründet dies mit den absehbar sinkenden Arbeitskosten in diesen Ländern. Auch Irland sei hier auf einem guten Weg.
Schluck aus der Pulle
Die Krisenländer gewinnen also wieder an Wettbewerbsfähigkeit im Vergleich zu Deutschland. Hinzu kommen die hohen Tarifabschlüsse hierzulande, etwa im öffentlichen Dienst. Danach steigen die Löhne und Gehälter für rund zwei Millionen Beschäftigte zum 1. März 2012 um 3,5 Prozent, ab 1. Januar 2013 um 1,4 Prozent und ab 1. August 2013 um weitere 1,4 Prozent. Damit haben sie nach zehn Monaten 4,9 Prozent mehr Gehalt und nach 18 Monaten eine dauerhafte Gehaltssteigerung um 6,3 Prozent.
Die gut dreieinhalb Millionen Beschäftigten der deutschen Metall- und Elektroindustrie können sich auf die kräftigste Lohnerhöhung seit rund 20 Jahren freuen. Arbeitgeber und die Gewerkschaft einigten sich auf eine Lohnanhebung von 4,3 Prozent. Und die IG Bergbau, Chemie Energie (IG BCE) fordert für die rund 550 000 Beschäftigten der chemischen Industrie sechs Prozent mehr Lohn und Gehalt. Herauskommen wird vermutlich ebenfalls ein Tarifabschluss, der deutlich über der gegenwärtigen Inflationsrate von zwei Prozent liegen dürfte.
Politisch gewollt?
Die Gewerkschaften konnten sich dabei sogar auf den Segen der Politik stützen. Denn Bundesfinanzminister Schäuble hatte sich vor den Tarifverhandlungen in einem Interview mit den Worten zitieren lassen, es sei “in Ordnung, wenn bei uns die Löhne aktuell stärker steigen als in allen anderen EU-Ländern.“ Deutschland habe seine Hausaufgaben gemacht und könne sich höhere Tarifabschlüsse besser leisten als andere Staaten. “Wir haben viele Jahre der Reformen hinter uns.“
Ähnlich sieht das EU-Währungskommissar Olli Rehn. Er verfolge die deutsche Debatte über höhere Löhne und eine Lockerung der Inflationspolitik sehr genau, sagte Rehn bei der Vorstellung des Konjunkturberichts der EU-Kommission. “Höhere Arbeitskosten werden die Binnennachfrage weiter stützen. Das ist gut für mehr Ausgewogenheit in der ganzen Wirtschaft der Eurozone.“
Der Süden holt auf, Deutschland lässt freiwillig nach - ist das der Königsweg aus der Eurokrise? Politisch scheint diese Nivellierung der Ungleichgewichte in der Eurozone durchaus gewollt zu sein, doch Commerzbank-Chefvolkswirt Jörg Krämer hält das aus ökonomischer Sicht für keine freundliche Entwicklung. “Die Währungsunion als Ganzes wird schwächer, wenn ihre größte Volkswirtschaft nicht nur gegenüber den Peripherieländern, sondern auch gegenüber den Volkswirtschaften außerhalb des Euroraums an Wettbewerbsfähigkeit verliert.“