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PolitikEuropa

Balkanroute: Kinder in Gefahr

16. September 2022

Bei ihrer Flucht in Richtung EU sind minderjährige Flüchtlinge auf der Balkanroute physischer, psychischer und sexueller Gewalt ausgesetzt. Das belegt ein Bericht der Kinderschutzorganisation Save the Children.

Save the Children |  Flüchtlinge-Kinder auf der Balkanroute
Ein Flüchtlingskind in Bihac, Bosnien und HerzegowinaBild: Save the Children in North West Balkans/Velija Hasanbegovic

"Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie die kroatische Polizei meine Freunde misshandelt hat... manche wurden an den Beinen verletzt, anderen wurde auf den Kopf geschlagen, in die Augen." (Ehsan, Junge, 17)

"Ein Schleuser (...) holte ein Messer heraus (...) das Mädchen hat geschrien und versucht, sich zu retten, aber er hat es sexuell missbraucht und wir haben das alles gesehen." (Hasnen, Junge, 15)

"Wenn sie einen hübschen Jungen sehen, misshandeln sie ihn - und die Polizei tut nichts. Dabei spielt es keine Rolle, ob er mit Familie oder allein reist. Es reicht, hübsch auszusehen." (Hanan, Junge, 17)

Die Balkanroute im Bericht der Kinderschutzorganisation Save the ChildrenBild: Zeljko Loncar/Save the Children

Das sind Auszüge aus drei von 48 Berichten Minderjähriger, die derzeit alleine oder mit ihren Eltern versuchen, von ihren Herkunftsländern - vor allem Afghanistan, Pakistan, Irak, Iran und Syrien - über die sogenannte Balkanroute in den friedlichen, reichen Westen Europas zu gelangen. Dabei müssen sie Nicht-EU-Länder wie die Türkei, Griechenland, Nordmazedonien, Serbien, Albanien, Montenegro und Bosnien und Herzegowina durchqueren. Ihre Aussagen wurden im Rahmen der Studie "Wherever we go, someone harms us" (Wo auch immer wir hingehen, fügt uns jemand Schaden zu) gesammelt, die am 13. September 2022 von der internationalen Kinderschutzorganisation Save the Children veröffentlicht wurde.

Für die in Zusammenarbeit mit der Universität der bosnischen Hauptstadt Sarajevo erstellte Studie wurden Tiefeninterviews mit Kindern im Alter zwischen 13 und 19 Jahren in Flüchtlingslagern in den bosnischen Städten Bihac, Tuzla und Sarajevo durchgeführt. Zudem wurden 27 Kinderschutzaktivisten befragt.

Täter sind Schleuser und Polizisten

Das schwierigste Hindernis auf ihrem Weg nach Westen ist für viele Migrierende die Grenze zwischen Bosnien und Herzegowina und dem jüngsten EU-Land Kroatien, das am 1. Januar 2023 Teil des sogenannten Schengen-Raums werden wird. Um das zu erreichen, versucht die Regierung in der kroatischen Hauptstadt Zagreb seit Jahren, sich mit einer besonders restriktiven und gewalttätigen Politik gegenüber Migranten als vorbildlicher und zuverlässiger Beschützer der EU-Außengrenzen zu zeigen. Zu den Methoden der kroatischen Grenzschützer gehören neben brutaler Gewalt auch "Pushbacks" von Flüchtenden, die nach EU-Recht illegal sind.

Migranten in einer verlassenen Fabrik an der Grenze Bosniens zu Kroatien im September 2020Bild: Marko Djurica/Reuters

"Auf der Flucht sind alle Migrierenden physischer, psychischer und sexueller Gewalt ausgesetzt - aber die am stärksten gefährdete Gruppe sind Kinder, vor allem diejenigen unter ihnen, die alleine reisen, ohne den Schutz ihrer Eltern", sagt Tatjana Ristic, Koordinatorin des Büros von Save the Children in Belgrad, der DW. "Sexualisierte Gewalt geht meist von Schleusern aus, sie sind mächtig, Kinder haben Angst vor ihnen - und sie sind auf sie angewiesen." Aber auch die Familie garantiere nicht immer Schutz. Neben Schleusern seien viele Täter Polizisten, vor denen es häufig keinerlei Schutz gebe.

Besonders Jungen sind bedroht

Laut dem Bericht von Save the Children sind unbegleitete Minderjährige während ihrer Reise gezwungen, oft im Freien oder in baufälligen Gebäuden mit unbekannten Erwachsenen zu leben - in ständiger Angst vor Schlägen oder sexuellem Missbrauch. Bedroht seien besonders Jungen. Hilflos und ohne Möglichkeit, das Erlebte zu verarbeiten, kompensierten viele Kinder und Jugendliche Angst und Stress mit Alkohol und Drogen. Auch die Zahl der Fälle von Selbstverletzung und Suizidversuchen sei "besorgniserregend".

Alleinreisende männliche minderjährige Flüchtlinge sind sexualisierter Gewalt am stärksten ausgesetztBild: Dona Bozzi/Pacific Press/picture alliance

"Dabei kommt es nur sehr selten zu Anzeigen", erklärt Save the Children-Koordinatorin Ristic. Das sei besonders schlimm, denn es bedeute, dass die betroffenen Kinder die erfahrene Gewalt normalisierten, sie also als etwas Normales und Unvermeidliches akzeptierten, dass sie sie nicht einmal meldeten - und das während einer Reise, die durchschnittlich vier Jahre dauere.

Politik der Abschreckung

Die Balkanroute sei alles andere als "geschlossen", betont Tatjana Ristic. Das Flüchtlingsabkommen zwischen der EU und der Türkei habe die Migrationsbewegungen zwar verringert - aber nicht beendet. "Im Jahr 2021 wurden entlang der Balkanroute 94.000 Flüchtlinge registriert", so die Save the Children-Koordinatorin in Belgrad, "aber die tatsächliche Zahl dürfte höher liegen". Die Kinderschutzorganisation habe einen weiteren Anstieg der Migrationsbewegungen von Januar bis Juni 2022 registriert.

Der Hauptgrund für die unmenschliche und gewalttätige Behandlung von Migranten sei die von der EU und den Ländern der Westbalkanregion verfolgte Politik der Abschreckung und Verhinderung der Ankunft von Flüchtlingen, betont Save the Children. Um der entgegenzuwirken, setzt sich die Kinderschutzorganisation auf politischer Ebene für die Verbesserung des Schutzsystems für minderjährige Migranten und der entsprechenden Gesetze und Verfahren in den Ländern entlang der Balkanroute ein.

Konkret fordert Save the Children "legale Migrationsmechanismen" auf der Balkanroute. "Asylanträge müssen individuell überprüft werden, Migranten sollten nicht zwangsweise von den Grenzen abgeschoben werden, Pushbacks sollten nicht angewendet werden", erklärt Tatjana Ristic gegenüber der DW. Und: "An den Grenzen sollten Menschen stehen, die für einen humanen Umgang mit Kindern, der schutzbedürftigsten aller Gruppen von Flüchtlingen, geschult sind."

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