Eine Stadt im Fokus von Trumps Hasstirade
30. Juli 2019Der junge Mann schwankt bei jedem Schritt. Als ihm auf der Straße eine ältere Dame entgegen kommt, nutzt er die Gelegenheit und bittet sie um einen Gefallen. Mit halb geöffneten Augen hält er ihr sein Feuerzeug hin - ob sie ihm sein Zigarillo anzünden würde? Die ältere Dame tut ihm den Gefallen, dann trennen sich die Wege der beiden wieder.
Die Begegnung zwischen dem jungen Mann, der offensichtlich unter Drogeneinfluss steht, und der hilfsbereiten alten Dame - beides Afroamerikaner - spielt sich auf der Christian Street (siehe Artikelbild) in Baltimore, gelegen im Osten der USA im Bundesstaat Maryland, ab. Das M & T Stadium, in dem die Baltimore Ravens Football spielen, ist keine zehn Autominuten entfernt - aber die Christian Street könnte genauso gut in einer anderen Welt liegen. Häuser mit Gittern oder massiven Holzplatten vor Tür und Fenstern säumen die Straße. Nicht alle haben noch Fensterscheiben, und ein Hausbesitzer hat "Nicht Eindringen, nicht Herumlungern" auf die Holzplatte vor seinem Kellerfenster gesprüht. Der Streifenpolizist, der am Ende der Straße parkt, ist wohl nicht immer vor Ort.
Das ist eine Seite der Stadt, die Präsident Donald Trump in seiner jüngsten Twitter-Tirade ins Visier nahm. Am Wochenende hatte der US-Präsident das mehrheitlich von Afroamerikanern bewohnte Baltimore als "widerliches, von Ratten und Nagern befallenes Loch" bezeichnet, wo "kein menschliches Wesen leben möchte". Einen Schuldigen für diesen Zustand hat Trump auch gleich parat: Den afroamerikanischen Abgeordneten Elijah Cummings, der für Baltimore im Kongress sitzt.
Kritiker fanden klare Worte zur Aussage des Präsidenten. "Besser ein paar Ratten zu haben, als eine zu sein", schreibt die Baltimore Sun Zeitung in einem Kommentar. Der Bürgerrechtler und Pastor Al Sharpton sagte auf einer Pressekonferenz in Baltimore am Montag, Trumps Worte seien "bigott und rassistisch". Der Präsident zeige "besondere Bosheit gegenüber Schwarzen".
Stadt der Gegensätze
Die Stadt habe aber auch ganz andere Seiten, betont Jonathan Callaway Peak. Der Sozialarbeiter wurde in Baltimore geboren, wuchs in Atlanta auf und lebt seit fünf Jahren wieder in seiner Geburtsstadt. "Es gibt hier 200 einzigartige Stadtviertel", sagt Callaway Peak. "Ich liebe so vieles an Baltimore - das Essen, die Geschichte, die Architektur." Kriminologe Jeffrey I. Ross von der University of Baltimore hat der Liste von Vorzügen unter anderem die alternative Kunstszene hinzuzufügen, den bei Touristen beliebten Inner Harbor und die leidenschaftliche Loyalität der Stadt zu ihren Mannschaften, den Ravens und dem Baseball Team der Baltimore Orioles.
Das minimiert nicht die Probleme der Stadt. Laut der Baltimore Sun wurden allein im Juli 39 Morde im Stadtgebiet gemeldet. Eines der Mordopfer war Scott Franklin, 32, der am 24. Juli in der Christian Street angeschossen wurde und noch am Tatort starb. Drei weitere Opfer waren jünger als 18 Jahre. Die Stadt hat eine der höchsten Kriminalitätsraten in den Vereinigten Staaten.
"Wir haben fast jedes Jahr einen neuen Polizeichef", sagt Ross. So bekomme man die Probleme mit Kriminalität und Drogen natürlich nicht unter Kontrolle. Die Situation gehe unter anderem auf die hohe Arbeitslosigkeit zurück. Viele Jobs seien im Frachthafen weggebrochen, erklärt der Wissenschaftler. Jedem, der sich auch nur kurz in Baltimore aufhält, wird klar: Die Probleme der Stadt sind nicht über Nacht entstanden und können auch nicht über Nacht gelöst werden. Aber: "Viele hart arbeitende Menschen versuchen, die Herausforderung anzugehen", sagt Ross. "Und der Abgeordnete Cummings ist einer von ihnen."
"Chaos vor der eigenen Haustür"
Cummings ist einer der lautesten Kritiker von Donald Trump und dem Präsidenten deshalb ein Dorn im Auge. Viele Beobachter sehen Trumps Rundumschlag gegen Baltimore als politische Attacke gegen den Kongressabgeordneten. "Wir haben Probleme in Bereichen wie Sicherheit, Arbeitslosigkeit und Bildung, aber das haben viele andere Städte auch", und die kritisiere Trump nicht, sagt Stadtratsmitglied Leon F. Pinkett, III. "Cummings macht im Repräsentantenhaus als Vorsitzender des Oversight Komitees [mächtiges Kontroll- und Ermittlungsgremium, die Red.] eben einen besonders guten Job."
Aber Cummings hat auch seine Kritiker in Baltimore. Stewart Jones sitzt in seinem Rollstuhl vor dem Rathaus der Stadt in der schwülen Hitze und macht seinem Ärger Luft: "Trump hat Recht!" ruft der Anwohner. "Cummings kritisiert das Chaos an der Grenze, dabei herrscht Chaos vor seiner eigenen Haustür."
Diejenigen, die über Trumps Tweets gegen Baltimore verärgert sind, beklagen vor allem, dass der Präsident nur meckere, ohne Lösungsvorschläge zu machen. "Wenn er ein wirklicher Staatsmann wäre, würde er konstruktive Ideen anbieten, die zur Lösung unserer offensichtlichen Probleme beitragen", sagt Callaway Peak. Und Stadtratsmitglied Pinkett sagt, dass der Präsident nicht alle Schuld auf andere abwälzen könne. "Soweit ich mich erinnere, liegt Baltimore immer noch in Amerika", sagt er. "Damit liegt die Stadt auch in Präsident Trumps Zuständigkeitsbereich."