Die Legende von der sauberen Wehrmacht
22. Juni 2016"Die Wehrmacht insgesamt war nicht verbrecherisch, wie Sie das in der Ausstellung behauptet haben, Herr Heer. Das ist dummes Zeug." Es war der Hauptmann der Reserve Helmut Schmidt, Bundeskanzler (1974 - 82) nach Willy Brandt und vor Helmut Kohl, der sich noch vor einem Jahr, kurz vor seinem Tod, in einem Streitgespräch mit Hannes Heer, dem Leiter der umstrittenen Wehrmachtsausstellung von 1995, angelegt hatte.
Es ging um die Frage, ob und wenn ja, in welchem Umfang die Wehrmacht am Vernichtungskrieg im Osten beteiligt war. Jahrzehntelang hatte sich die deutsche Gesellschaft eingerichtet in dem Bewusstsein, dass die Wehrmacht eine ehrbare Armee in der Tradition Preußens war. Getreu dem Motto: Ja, die SS (Schutzstaffel - Hitlers Unterdrückungsinstrument) war schlimm, der Rest war sauber.
Die Ausstellung zum 50. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs veränderte vieles. Der Nerv einer ganzen Generation war getroffen. Denn die Legende von der unschuldigen Wehrmacht war eine der letzten übriggebliebenen Lebenslügen der alten Bundesrepublik. Vor allem das Unternehmen "Barbarossa", Hitlers Vernichtungskrieg gegen Russland, stand seitdem wieder im Fokus. Ein Vernichtungskrieg von Anfang an.
Der Russlandfeldzug
Der 22. Juni 1941 war der Tag des größten militärischen Aufmarsches der Weltgeschichte. Insgesamt 3,6 Millionen Soldaten überfielen die Sowjetunion, das größte Land der Erde. 140 Divisionen schlugen los. Es war ein Weltkrieg im Weltkrieg.
Als um 3.15 Uhr die Grenzen im Osten auf einer Länge von mehr als 1.600 Kilometern gleichzeitig überrannt wurden, bombardierte Hermann Görings Luftwaffe die sowjetischen Flugzeuge noch am Boden. Allein am ersten Tag wurden 66 Flugplätze angegriffen. 3.600 Panzer rollten voran, 700.000 Geschütze folgten. Der Angriff war so schnell und massiv, dass Hitlers Truppen pro Tag bis zu 50 Kilometer Geländegewinn machten.
Warum die Sowjetunion, mit der man noch zwei Jahre zuvor einen Nichtangriffspakt (Hitler-Stalin-Pakt) geschlossen hatte? Der Kampf gegen den Bolschewismus war Hitlers erklärtes Ziel. In der nationalsozialistischen Ideologie wurde der Begriff synonym zur Herrschaft des Judentums verwandt.
Schon Monate vor dem Unternehmen "Barbarossa" weihte Hitler die Spitzen der Wehrmacht in seine Feldzugspläne ein. Gesprächsnotizen von Teilnehmern belegen, dass der Gegner nicht nach internationalem Kriegsrecht behandelt werden sollte. Im Gegenteil: Die politischen Kommissare der Roten Armee seien "durch die Truppe zu beseitigen. Nicht nach hinten abschieben". Und: Der Osten sollte bis zum Ural Siedlungsgebiet für die Deutschen werden - und zwar exklusiv. Als die Panzer dann rollten, war die Stunde des Radios gekommen. Unentwegt wurden Siegesmeldungen über den Äther vermeldet.
Tatsächlich schafften es Hitlers Truppen in den ersten sechs Monaten, rund 3,4 Millionen Rotarmisten einzukesseln. Aber: Beim Vormarsch sterben schon in den ersten Monaten rund 300.000 Soldaten nur auf deutscher Seite. Ende November 1941 standen Hitlers Truppen 20 Kilometer vor Moskau. Doch dann spielte "General Winter" Schicksal. Bei 40 Grad minus fror der Blitzkrieg fest. Gefallenen Rotarmisten zogen die Deutschen sofort die Stiefel aus. Ab Dezember ging die Rote Armee in die Gegenoffensive.
Noch vier weitere Jahre dauerte das Morden. Erst die Einkesselung der 6. Armee vor Stalingrad und ihre Kapitulation im Februar 1943 bedeutete das vorweggenommene Ende für Hitler-Deutschland. Auf keinem Kriegsschauplatz starben mehr Menschen als im Osten Europas. Allein 600.000 Leningrader verhungerten oder erfroren in ihrer belagerten Stadt, 1,2 Millionen Weißrussen wurden bei sogenannten Vergeltungsaktionen hingerichtet, 2,5 Millionen Juden ermordet. Allein 3,3 Millionen Rotarmisten starben in deutscher Gefangenschaft. Wer war dafür verantwortlich? Nur die SS?
Die Mär von der sauberen Wehrmacht
Lange vor der in jeder Hinsicht spektakulären Wehrmachtsaustellung 1995 hatte das Militärgeschichtliche Forschungsamt der Bundeswehr schon 1983 geurteilt, es sei ein "Zerrbild der Wirklichkeit, dass nur die SS den Todesstoß gegen das Wahnbild des 'jüdischen Bolschewismus' geführt und die Wehrmacht sich auf die Führung der Operationen beschränkt habe".
Der Historiker Wolfram Wette untermauert das gegenüber der Deutschen Welle. Zum 70. Jahrestag sagte er, "nach 1945 hat die Wehrmachtselite ganz systematisch die Legende von der sauber gebliebenen Wehrmacht in die Welt gesetzt." Damit wurden quasi alle Verbrechen, die im Osten passierten, der SS untergeschoben. Das, so Wette, kam einer Kollektiventlastung gleich. Was in Historikerkreisen über die Jahrzehnte entdeckt, erforscht und publiziert wurde, erreichte die breite Öffentlichkeit erst Mitte der 1990er Jahre: Die Verstrickung der Wehrmacht in die Verbrechen in Russland und Südosteuropa.
Bilder, die mehr sagen als Worte
"Vernichtungskrieg - Verbrechen der deutschen Wehrmacht 1941 - 1944". Unter diesem Titel tourte ab 1995 die Ausstellung durch 34 Städte. Darunter Berlin und Wien, aber auch Schwäbisch Hall und Peenemünde. Mehr als 800.000 Besucher ließen sich provozieren, denn das kollektive Gewissen der Deutschen hatte die Bösen und Guten längst säuberlich getrennt: Nazis waren die anderen, die SA, die SS, die hatten Dreck am Stecken. Unschuldig war die Wehrmacht.
Mit diesem beruhigenden Wissen darum, dass nicht alle schlecht waren, räumten die Ausstellungsleiter kräftig auf. Und das vor allem mit Bildern: Erhängte, Massengräber, feixende Soldaten vor Todeskandidaten kurz vor dem Genickschuss.
Was unter Fachhistorikern schon lange unumstritten war, kam in der breiten Öffentlichkeit damals einer Provokation gleich: Auch die Wehrmacht hatte im Osten mit gemordet. Konservative liefen Sturm, Sozialdemokraten und Grüne unterstützten die These der Ausstellungsleiter. "Der Spiegel" widmete Ausstellung und Kontroverse eine Titelgeschichte, 1997 debattierte der Bundestag über das aufwühlende Thema.
"Wir hantieren hier hart am Nerv einer Generation", sagte damals der SPD-Politiker Erhard Eppler bei der Eröffnung der Ausstellung in Stuttgart. Der Historiker Iring Fetscher nannte die neue Konfrontation der Deutschen mit ihrer Wehrmacht eine "Zumutung, die ertragen werden muss."
Der Aufstand der Kritiker war dennoch so groß, dass die Ausstellungsmacher unter Druck gerieten. Ihnen wurde nachgewiesen, dass von den mehr als 1.430 Fotos weniger als 20 nichts mit der Wehrmacht zu tun hatten. Das reichte, um die Ausstellung unter Verantwortung einer neuen Historiker-Kommission komplett neu zu konzipieren. Grundsätzlich aber blieben die Kernaussagen der ersten Ausstellung richtig: Die Wehrmacht war an der Ermordung von Juden, an Verbrechen gegen sowjetische Kriegsgefangene und an Übergriffen gegen Zivilisten beteiligt - manchmal auch federführend.