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Politik

"Beginn einer humanitären Katastrophe"

31. März 2022

Tschernihiw wird seit Beginn des Krieges ständig von der russischen Armee beschossen. Brücken sind zerstört, die Stadt steht unter Blockade. Wie überleben die Bewohner unter solchen Bedingungen? Augenzeugen berichten.

Ukraine Zerstörung in  Chernihiv
Zerstörtes Gebäude in TschernihiwBild: privat

Beschuss rund um die Uhr, Nahrungs- und Wassermangel, fehlende Kommunikationsverbindungen und Hoffnung auf eine Evakuierung - so sieht der Alltag der Menschen in Tschernihiw aus. Der Stadt droht das Schicksal des belagerten Mariupol. Die Bewohner von Tschernihiw beklagen, ihre Lage finde jedoch weniger Beachtung. Sie bitten die Welt, Tschernihiw nicht zu vergessen und zu berichten, was die russische Armee einer der ältesten Städte der Ukraine antut.

Die DW veröffentlicht die Geschichten von drei Einwohnern von Tschernihiw, deren Namen aus Sicherheitsgründen geändert wurden. Sie beschreiben, was sie derzeit erleben.

Olena konnte trotz Luftalarms Tschernihiw noch verlassen

"Am 24. Februar, dem Tag des russischen Angriffs, war ich mit meinem Freund in Kiew, aber ich fuhr zurück nach Tschernihiw, weil meine ganze Familie dort ist. Das ist meine Heimat, meine Stadt, die ich liebe. Mir war klar, dass ich russischen Panzern direkt entgegenfahre. Ich weinte fast die ganze Zeit.

Als ich ankam und aus dem Auto stieg, hörte ich Beschuss, der immer lauter wurde. Schon in der ersten Nacht mussten wir in den Keller unseres Wohnhauses, die Fenster zitterten. 

Weil es den russischen Truppen nicht gelingt, die Stadt einzunehmen, terrorisieren sie ganz Tschernihiw. In der Nähe unseres Hauses schlugen ständig Geschosse ein. Ich konnte nur drei bis vier Stunden schlafen, komplett in Kleidung. Später zogen wir uns ganz in den Keller zurück, weil man in der Wohnung nicht mehr bleiben konnte. Dort zitterte ich ständig vor Anspannung, selbst in den wenigen ruhigen Momenten. 

Brennendes Wohnhaus nach Raketeneinschlag in Tschernihiw am 22. MärzBild: privat

Am 1. März rückten die Truppen sehr nahe an die Stadt heran, der Beschuss wurde noch intensiver. Wir fürchteten uns, nach draußen zu gehen. Nur einmal, und das unter Beschuss, ging ich in einen Laden und zur Apotheke. 

Wir aßen die Vorräte, die wir hatten. Wir standen um 4 Uhr morgens auf, denn da war es relativ ruhig. Wir kochten schnell: Buchweizen oder Nudeln. Gegessen haben wir meist im Keller, wegen des Luftalarms.

Die letzten Tage, die wir in der Stadt verbrachten, schliefen wir in der Wohnung. Es gingen Gerüchte um, russische Saboteure könnten Zivilisten als Schutzschilde nehmen, und der Keller ließ sich nicht verschließen. Ich schlief mit einem Küchenmesser und einer Taschenlampe in der Tasche. Es gab bereits Berichte, wonach Frauen in Cherson vergewaltigt wurden.

Aber auch in der Wohnung war es unerträglich. Russische Kampfflugzeuge flogen sehr tief über unsere Wohngebiete. Wir lagen mit Kissen auf dem Kopf im Korridor, und das Grollen war so laut, als würden die Flieger direkt über meinen Kopf fliegen. Dieses Gefühl von Hilflosigkeit und Panik ist schrecklich.

Unser Haus befindet sich am Rande der Stadt, und mir war klar, dass wir unter Beschuss geraten würden, sollten die russischen Truppen noch ein wenig vorrücken. Der Strom und die Wasserversorgung fielen aus. Dann konnte ein Freund, der bei der Territorialverteidigung ist, meine Mutter  glücklicherweise überzeugen, gemeinsam mit mir zu fliehen.

Zerstörungen in einem Wohngebiet in TschernihiwBild: privat

Am 5. März, gleich nach der Ausgangssperre, verließen wir Tschernihiw trotz eines Verbots der örtlichen Behörden und trotz Luftalarms. Ich hatte Kontakt zu Freiwilligen, die mehr oder weniger sichere Fluchtwege kennen. Schon am nächsten Tag hätten wir diese Route nicht mehr nehmen können.

Auch nach vielen Tagen an einem mehr oder weniger sicheren Ort liegt meiner Mutter immer noch das Dröhnen der Flugzeuge in den Ohren. Wir beide reagieren auf jedes Geräusch. Als ich zum ersten Mal nach der Flucht eine Sirene hörte, wollte ich mich unterm Bett verstecken. Inzwischen bin ich ruhiger geworden, aber die Lage in der Ukraine und in Tschernihiw, wo wir noch Verwandte haben, die nicht weg wollen, macht uns Sorge.

Mein Bruder und meine Großmutter sind inzwischen krank, weil das jetzt unbeheizte Hause sehr kalt ist. Sie sparen auch die Akkuladungen ihrer Handys und schalten sie nur für ein paar Minuten ein, um uns zu kontaktieren. Das Gefühl, verlassen zu sein und keine Informationen zu haben, ist für sie sehr bedrückend. Wir erzählen ihnen die Nachrichten. Ich versuche sie zu überreden, die Stadt zu verlassen, solange es noch geht, denn Tschernihiw kann zu einem zweiten Mariupol werden. Aber sie wollen nicht weg. Sie sagen, Menschen hätten den Zweiten Weltkrieg irgendwie überlebt, und sie würden diesen Krieg schon überleben."

Dmytro hilft als Freiwilliger den Menschen in Tschernihiw

Dmytro war zu Kriegsbeginn in einem Dorf nahe Tschernihiw, wo es sofort zu Kämpfen kam. Nach zwei Tagen im Keller konnte er mit seiner Familie in die Stadt flüchten, die zu Friedenszeiten 285.000 Einwohner hatte. Dort gründete Dmytro zusammen mit Freunden eine Freiwilligen-Initiative, die Menschen mit Lebensmitteln und Medikamenten versorgt.

"Mit jedem Tag wird die Lage in der Stadt schwieriger. Die russischen Truppen haben die halbe Stadt zerstört - Sportanlagen, Bibliotheken, Schulen, Baudenkmäler und zivile Gebäude. Die Flieger bombardieren ständig, wie nach einem Zeitplan.

Ungefähr 100.000 Zivilisten sind noch in der Stadt, meist Rentner. Man sieht sie auf den Straßen, obwohl es gefährlich ist, durch die Stadt zu gehen. Wer sich mental an die Situation gewöhnt hat, geht mit Hunden spazieren und liest draußen ein Buch. Es gibt aber auch Menschen, die nicht aus den Kellern herauskommen. Viele haben psychische Probleme, aber Hilfe gibt es keine. Es gibt auch viele bettlägerige Menschen.

Raketeneinschlag in einem Wohngebiet von TschernihiwBild: privat

Strom und Heizung sind längst ausgefallen und es gibt sehr wenig Wasser. Daher sammeln die Menschen Regenwasser oder entleeren Heizkörper. Große Probleme gibt es auch mit der Ernährung und der Kommunikation, da Handy-Akkus nicht geladen werden können.

Eigentlich hat in Tschernihiw längst eine humanitäre Katastrophe begonnen. Die Stadt steht komplett unter Belagerung, seitdem die Brücken gesprengt sind. Einige Geschäfte haben geöffnet, aber die Regale sind leer und die Preise hoch. Anfangs wurde nach Milch, Fleisch, Eiern gefragt, aber jetzt hoffen die Menschen nur noch auf ein Stück Brot und ein Glas Wasser. Wir bekommen auch viele Anfragen, bestimmte Adressen aufzusuchen, um zu nachzusehen, ob Verwandte noch leben.

Mein Team kauft in Läden alles auf, damit wir etwas auf Lager haben. Es gibt viele Berichte, dass Menschen hungern. Mir kommen die Tränen, wenn ich diese Hilferufe lese. Ich vermute, dass wir schon Hungertote haben. Glücklicherweise konnten wir uns jüngst mit einem Backbetrieb einigen, der uns für viel Geld tausend Brote liefern wird. Ich denke, dass dies auch in Zukunft möglich sein wird. Einige Apotheken arbeiten noch, aber es gibt große Probleme mit Medikamenten. 

Wir erhalten auch Bitten, bei der Aushebung von Gräbern zu helfen. Der Friedhof arbeitet und es ist möglich, Menschen zivilisiert zu bestatten. Das Ausmaß der zivilen Opfer ist schwer abzuschätzen. Viele Menschen liegen noch unter den Trümmern.

Glück hat Tschernihiw mit Ärzten. Trotz der schwierigen Bedingungen arbeiten sie hart und führen auch komplizierte Operationen durch.

Viele Menschen, die noch in der Stadt sind, wollen raus und kontaktieren uns Freiwillige. Doch eine Evakuierung ist derzeit unmöglich."

Oleksandr schaffte es nicht mehr raus aus Tschernihiw

"Am 24. Februar um 4.30 Uhr ertönte eine Sirene, ich hörte zwei laute Explosionen und spürte Erschütterungen. Menschen mit Kindern und Tieren stiegen in Autos und verließen mit wenigen Habseligkeiten die Stadt. Aber unser Auto war durch die Druckwelle einer Explosion beschädigt.

An Tankstellen standen Hunderte Autos Schlange, um Benzin zu tanken. Überhaupt herrschte in den ersten Kriegstagen Panik in der Stadt. Warteschlangen gab es für Lebensmittel, Haushaltsreiniger und allen möglichen Grundbedarf wie Taschenlampen, Telefone, Powerbanks.

Viele Geschäfte in Tschernihiw sind geschlossen oder zerstörtBild: privat

Mit Stand vom 34. Kriegstag haben die meisten Menschen Tschernihiw verlassen. Einen offiziellen Fluchtkorridor gab es nicht. Alle Ausfallstraßen sind besetzt. Es kommt keine humanitäre Hilfe an. Konserven und Gemüsevorräte in Garagen und Kellern sind jetzt die Rettung.

Wasser gibt es nur in einigen Teilen der Stadt. Es wird in Wasserwagen herangebracht und verteilt, es gibt aber auch noch Brunnen. Strom gibt es überhaupt keinen, nur über Generatoren, aber diese werden mit Treibstoff betrieben, der knapp ist. Gas gibt es noch, aber nicht überall. Die Menschen bereiten ihr Essen in Hinterhöfen auf Feuerstellen zu. Für die Notdurft werden Löcher gegraben.

Seit zwei Wochen funktionieren in der Stadt keine Sirenen mehr, wahrscheinlich weil der Strom weg ist. Die Außenbezirke der Stadt werden seit zwei Wochen ständig mit Artillerie beschossen. Ich kann mich an keinen Tag erinnern, an dem es in Tschernihiw keine Explosion gab.

Als die erste Panik nachließ, trat ein Überlebensmodus ein. Aufgrund einer Behinderung bin ich für den Militärdienst ungeeignet, also meldete ich mich als Freiwilliger. Ich verteile das Nötigste an Menschen. Mit Beschäftigung vergehen die Tage schneller. Das hilft, einen kühlen Kopf zu bewahren und seelisch nicht durchzuhängen.

Krieg ist etwas sehr Schreckliches. Dieser Satz mag banal klingen, aber wer Krieg nicht am eigenen Leib gespürt hat, weiß nicht wirklich, wie sehr dieser Satz stimmt."

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