1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

"Wählen zu dürfen, ist zentral"

21. Februar 2019

Zehntausende Menschen mit Behinderung dürfen in Deutschland nicht wählen. Nach einem Verfassungsgerichts-Urteil soll sich das ändern. Hoffentlich vor der Europawahl, sagt der Behindertenbeauftragte Dusel im DW-Interview.

Symbolbild - Rollstuhl
Bild: Getty Images/AFP/J. Evrad

DW: Herr Dusel, das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe hat entschieden, dass Behinderte mit Rundum-Betreuung nicht pauschal von Wahlen ausgeschlossen werden dürfen. Was halten Sie von dieser Entscheidung?

Jürgen Dusel: Das ist eine sehr gute Entscheidung. Ich freue mich über diese klare Entscheidung. Das ist ein guter Tag für die Demokratie.

Bisher durften etwa 80.000 Erwachsene in Deutschland nicht wählen. Ein Skandal?

Dass Menschen pauschal vom Wahlrecht ausgeschlossen sind, steht unserer Demokratie nicht gut zu Gesicht. Dem folgt meistens ein anachronistischer Blick auf Menschen mit Behinderungen. Es geht beispielsweise um Menschen, die jeden Tag in eine Werkstatt für behinderte Menschen fahren, die sich dort vielleicht auch ehrenamtlich engagieren. Menschen, die Parteiprogramme in leichter Sprache lesen, die durchaus politisch interessiert sind. Und die dürfen pauschal nicht wählen? Das finde ich nicht richtig.

Das galt bislang ja nur, wenn jemand für alle Angelegenheiten des Lebens einen Betreuer brauchte. Heißt das nicht auch, dass er oder sie eine Wahlentscheidung nicht selbst treffen konnte?

Nein. Diese Menschen sind gleichwohl geschäftsfähig. Das unterscheidet ja die Situation in der Betreuung von derjenigen der Vormundschaft. Wir haben keine Vormundschaft mehr. Das heißt, diese Menschen sind weiterhin geschäftsfähig, eine Kaufentscheidung zum Beispiel traut man diesen Menschen zu. Aber eine Wahlentscheidung nicht. Das Bundesverfassungsgericht hat klar gesagt: Es lässt sich nicht vereinbaren mit den Werten unseres Grundgesetzes.

Gibt es nicht die Gefahr, dass in Zukunft das Umfeld die Wahlentscheidung Behinderter manipuliert?

Ja, man hört das. Kritiker werfen ein, dass Wahlrechtsmissbrauch entstehen könnte. Aber allein der Umstand, dass eine abstrakte Gefahr besteht, die vielleicht auch bei der Briefwahl zu Hause besteht, rechtfertigt ja in keinster Weise, ein fundamentales demokratisches Grundrecht nicht zu gewähren.

Gibt es denn auch das Recht auf eine irrationale Wahlentscheidung?

Natürlich. Wer wollte denn entscheiden, wann jemand wahlfähig ist und wann nicht? Wählen zu dürfen, ist zentral für unsere Demokratie. Es gibt viele Menschen unter Betreuung, die wählen wollen. Da sprechen wir gerade nicht von Politikverdrossenheit. Und ich glaube, gerade wir Deutsche sind aufgefordert, besonders genau hinzuschauen, wenn Bevölkerungsgruppen pauschal fundamentale demokratische Grundrechte nicht gewährt werden. Das wird sich jetzt gottseidank ändern.

Wie lange, denken Sie, wird eine Gesetzesänderung brauchen?

Ich hoffe, dass das schnell geht. Ich wünsche mir natürlich, dass das noch vor der Europawahl geschieht. Das ist sehr sportlich, das weiß ich. Aber wenn alle wollen, glaube ich, ist das möglich.

Jürgen Dusel setzt sich im Auftrag der Bundesregierung für die Rechte behinderter Menschen in Deutschland einBild: picture-alliance/dpa/S. Stache

Eigentlich gab es ja schon lange den Plan der Regierung, das Gesetz zu ändern. Aber die CDU hat sich zuletzt gesperrt. Warum konnten Sie ihre Chefin Merkel und deren Partei bislang nicht überzeugen?

Nun, das ist eine ganz normale Diskussion wie in der Bevölkerung auch. Manche Menschen denken, das könnten die Leute mit Behinderung oder die Menschen, die unter Betreuung stehen, nicht. Die Frage des Wahlrechtsmissbrauchs spielte da auch eine Rolle. Aber die Abschaffung des Wahlrechtsausschlusses steht ja sogar im Koalitionsvertrag. Und deswegen plädiere ich jetzt sehr stark dafür, dass dieser Koalitionsvertrag schnell abgearbeitet wird.

Die Verfassungsrichter sind aber nach wie vor der Meinung, dass der Staat Behinderten das Wahlrecht entziehen kann. Nämlich dann, wenn sie nicht hinreichend am "Kommunikationsprozess zwischen Volk und Staatsorganen" teilnehmen können. Wo ziehen Sie die Grenze?

Ich würde keine Grenze ziehen, weil es aus meiner Sicht überhaupt nicht möglich ist, zu entscheiden, wann jemand wahlfähig ist und wann nicht. Es gibt viele Länder, die es so geregelt haben, dass alle Menschen wählen können. Und deswegen hoffe ich, dass es zu einer kompletten Streichung kommt.

Jürgen Dusel ist seit 2018 Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen.

Den nächsten Abschnitt Mehr zum Thema überspringen