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Im Kino: "Son of Saul"

Jochen Kürten10. März 2016

Der mit einem Oscar ausgezeichnete "Son of Saul" ist ein verstörender Film über das Lagerleben in Auschwitz. In der Vergangenheit haben nicht alle Regisseure das Thema so einfühlsam umgesetzt wie jetzt László Nemes.

Filmstill Son of Saul (Foto: Sony Pictures/dpa)
Bild: picture-alliance/dpa/Sony Pictures

Knapp zwei Stunden lang blickt der Zuschauer in ein Gesicht. Oder über die Schulter des Protagonisten. "Son of Saul" beschränkt sich fast ausschließlich auf zwei Einstellungen. Entweder man blickt in die oft starren Gesichtszüge des jüdischen KZ-Häftlings Saul Ausländer (Géza Röhrig) oder man sieht, wie dieser von einer Idee besessene Mann durch das Konzentrationslager hetzt: Dann schaut die Kamera über seine Schulter und nimmt sich seiner Perspektive an.

"Son of Saul" ist in vielfacher Hinsicht ein außergewöhnlicher Film. Weltpremiere feierte das Spielfilm-Debüt des ungarischen Regisseurs László Nemes im vergangenen Jahr bei den Filmfestspielen in Cannes. Er wurde mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet, nach der Goldenen Palme der wichtigste Preis des Festivals. Anschließend wurde er auf zahlreichen anderen Festivals gezeigt und vor kurzem auch noch mit dem Oscar für den besten fremdsprachigen Film bedacht.

Deutscher Kinostart verzögerte sich lange

In vielen Ländern der Erde kam der Film in den vergangenen Wochen in die Kinos. Ausgerechnet in Deutschland fand sich lange kein Verleih. Erst anderthalb Wochen nach der Oscar-Verleihung Ende Februar startet der ungewöhnliche Auschwitz-Film auch in den hiesigen Kinos.

"Son of Saul" spielt in den letzten Monaten vor Ende des Zweiten Weltkriegs. In den Konzentrationslagern im Osten Europas bereiten sich die deutschen Lagerkommandanten auf den Abzug vor. Man ahnt, dass die Rote Armee bald kommen wird. Hektisch und mit größter Grausamkeit wird versucht, in möglichst kurzer Zeit möglichst viele Gefangene zu töten. Dafür werden Häftlinge in sogenannten Sonderkommandos zusammengefasst. Sie haben die unmenschliche Aufgabe, bei der Ermordung der Mithäftlinge zu helfen.

Saul Ausländer ist Mitglied eines solchen Sonderkommandos. Eines Tages sieht er einen kleinen Jungen, der ihn an seinen Sohn erinnert. Kurz darauf wird der Junge von einem KZ-Arzt getötet. Saul hat nur noch eines im Sinn: Er will die Leiche des Kleinen in der Erde bestatten und ihm so die letzte Würde erweisen. Da die jüdische Religion die Einäscherung verbietet, ist Ausländers Vorhaben gleichzeitig ein Akt der Rebellion.

Son of Saul: ungewöhnliche Kameraperspektiven

László Nemes zeigt dieses mutige wie auch absurde Unterfangen auf eine beklemmende Art und Weise. Der Film, aufgenommen in einem ungewöhnlichen quadratischen Bildformat, zieht den Zuschauer durch die Kameraperspektive sogartig in das Geschehen hinein. Nur das Konterfei des Hauptdarstellers und seine unmittelbare Umgebung sind scharf. Alles andere, auch die von den Deutschen verübten Verbrechen, erscheinen verschwommen an den Bildseiten und im Hintergrund. Doch der Zuschauer weiß natürlich, um was es geht. Die intensive Tonspur verstärkt den hohen Grad an Authentizität. "Son of Saul" gewinnt dadurch eine enorme dokumentarische Kraft.

Bevor sich László Nemes den Oscar holte, gewann er schon den Golden GlobeBild: Getty Images/NBCUniversal/P. Drinkwater

Er habe gerade nicht den Standpunkt eines KZ-Überlebenden übernehmen wollen, erklärt László Nemes die spezifische ästhetische Herangehensweise. Er habe nicht den Anspruch gehabt, alles zu zeigen, was sich im Konzentrationslager abspielt: "Ich wollte die Geschichte so einfach und so archaisch wie möglich zeigen." Gerade dadurch unterscheidet sich "Son of Saul" von vielen anderen Spielfilmen, die das Thema Holocaust in den vergangenen Jahrzehnten aufgegriffen und ihr Augenmerk auf das Leben und Überleben in Konzentrationslagern gerichtet haben.

Er habe Kinofilme über die Konzentrationslager immer als frustrierend empfunden, sagt Nemes: "Sie haben oft versucht, Geschichten des Überlebens und des Heldentums zu zeigen." Dadurch hätten sie aber in Wahrheit eine verklärende Sichtweise der Vergangenheit befördert. "Son of Saul" ist dagegen von nüchterner Schlichtheit. Dadurch wirkt er so ergreifend und authentisch.

Kritik am Überschreiten eines Tabus

Doch es gab nach der Uraufführung in Cannes auch Kritik, die an ein grundsätzliches Problem rührt. Darf sich ein inszenierter Spielfilm überhaupt des Themas Konzentrationslager annehmen? Dürfen die grausamen Taten, das Töten und Morden und das Vergasen von Menschen von Darstellern gespielt werden? Sollen für solch ein Szenario künstliche Kulissen hergerichtet werden, Kameraperspektiven geprobt und ein spezielles Licht eingerichtet werden? Darf also das Lagerleben "nachgespielt" werden? Die Debatte ist nicht neu, sie wird auch in der Literatur und im Theater, in Kunst und Philosophie geführt.

Saul Ausländer (Géza Röhrig, r.) versucht, sein Vorhaben bei den Lageroffizieren durchzusetzenBild: Laokoon Film

Die Kritikerin einer großen deutschen Tageszeitung fragte nach der Premiere: "Kann sich jemand die Dreharbeiten vorstellen? Das Verhältnis der Darsteller zu den Figuren, die sie spielen?" Und kam zu der Antwort: "Es gibt Gründe für das Tabu, das den Holocaust als Stoff für Fiktionen umgibt, es sind gute Gründe. Sie sollten gelten, immer noch." Letztendlich muss jeder Zuschauer selbst eine Antwort auf die Frage finden, wie und ob sich die Fiktion des Themas annähern darf.

"Son of Saul" von László Nemes hat seinen ganz eigenen Weg gefunden. Als Steven Spielberg 1993 seinen Film "Schindlers Liste" vorstellte, übte der französische Regisseur Claude Lanzmann heftige Kritik: "Der Holocaust ist vor allem darin einzigartig, dass er sich mit einem Flammenkreis umgibt, einer Grenze, die nicht überschritten werden darf, weil ein bestimmtes, absolutes Maß an Gräuel nicht übertragbar ist", schrieb Lanzmann damals. Wer es trotzdem tue, der macht sich der schlimmsten Übertretung schuldig.

Claude Lanzmann verteidigt "Son of Saul"

"Als ich 'Schindler's List' sah, fand ich das wieder, was ich auch bei der 'Holocaust'-Fernsehserie empfunden hatte. Übertreten oder trivialisieren läuft hier auf das Gleiche hinaus. Ob Serie oder Film, beide übertreten, weil sie 'trivialisieren' und so die Einzigartigkeit des Holocaust zunichte machen", so Lanzmann. "Son of Saul" hingegen lobte der Regisseur ausdrücklich. Der Film sei eine Art "Anti-Schindler-Liste", ein Film, der geeignet sei, die Erinnerung an den Genozid wachzuhalten.


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