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Massenproteste in Belarus: Was sich seit 2020 verändert hat

Emma Levashkevich
9. August 2025

Vor fünf Jahren begannen in Belarus massive Proteste, die brutal niedergeschlagen wurden. Was ist davon geblieben? Was ist aus dem Land geworden? Und hätte alles anders laufen können?

Eine Protestaktion im Stadtzentrum von Minsk im August 2020: Eine Frau, von hinten fotografiert, steht auf dem Dach eines Hauses und schwenkt die weiß-rot-weiße Nationalflagge von Belarus, unten auf dem Platz haben sich Tausende Menschen versammelt, die an der Protestaktion teilnehmen
Massenproteste in Minsk: Vor fünf Jahren gingen tausende Menschen auf die Straße und forderten den Rücktritt von Präsident Lukaschenko Bild: picture-alliance/AP Photo/E. Maloletka

Niemand hätte das vorhergesehen, als vor fünf Jahren die größten Proteste in der Geschichte von Belarus begannen. Und das in einem Land, das bereits seit mehr als einem Vierteljahrhundert autokratisch von Alexander Lukaschenko regiert wurde.

Dessen Ablösung ist frühestens ab 2030 in Sicht. Am Freitag (8. August) erklärte Lukaschenko gegenüber dem Time Magazine, dass er nach dem Ende seiner Amtszeit 2030 nicht daran denke, weiter im Amt zu bleiben. Er strebe auch nicht danach, seinen Sohn als Nachfolger einzusetzen. 

Vor fünf Jahren, am Tag der Präsidentenwahl am 9. August 2020 strömten die Menschen auf die Straßen, aus Protest gegen das zugunsten von Lukaschenko gefälschte Wahlergebnis. Aber auch angetrieben durch die fehlenden Schutzmaßnahmen der Behörden gegen die COVID-Pandemie sowie die Festnahme der aussichtsreichsten oppositionellen Präsidentschaftskandidaten sowie Tausender Bürger.

Frauen organisierten Märsche und Studenten Streiks, es protestierten Arbeiter, Schauspieler und Sportler, es gab Entlassungen von Diplomaten, offene Briefe von Ärzten und Lehrern. Die Sicherheitskräfte des Landes reagierten mit einer Welle von Gewalt. Misshandelte Menschen mussten aus den Polizeistationen direkt in Krankenhäuser gebracht werden.

Und die Hollywood-Geschichte der Hausfrau Swetlana Tichanowskaja, die anstelle ihres damals inhaftierten Mannes Sergej Tichanowski in den Kampf um die belarussische Präsidentschaft zog, endete ohne Happy End. Sie wurde ins Exil in Litauen gezwungen.

Sergej Tichanowski und Swetlana Tichowskaja bei einer Kundgebung belarussischer Exilanten in Warschau im Juni 2025Bild: Tatsiana Harhalyk/DW

Im Laufe der Jahre versicherte sich Alexander Lukaschenko zunehmend der Unterstützung Russlands. Er half Wladimir Putin beim Krieg gegen die Ukraine, löste eine Migrationskrise an der Grenze zur Europäischen Union aus, ließ sich für eine weitere fünfjährige Amtszeit bestätigen und denkt nach wie vor nicht an einen Rücktritt. Aber hätte das alles auch anders kommen können?

Was wäre geschehen, wenn …

Die Entwicklung in Belarus hätte damals wohl nicht anders verlaufen können, meint Artyom Shraibman, Experte am Berliner Carnegie Center. "Der Westen hatte in diesen kritischen Momenten keine Hebel, das Lukaschenko-Regime irgendwie zu schwächen", sagt der Politologe im DW-Gespräch.

Alexander Lukaschenko und Wladimir Putin zu Besuch im Valaam-Kloster Anfang August 2025Bild: Gavriil Grigorov/Russian President Press Office/dpa/picture alliance

DW-Kolumnist Alexander Friedman, der an deutschen Universitäten Osteuropäische Geschichte lehrt, weist auf das Paradigma der Weltpolitik hin, das im Jahr 2020 ein anderes gewesen sei. "Aus europäischer Sicht wurde Belarus als eine Zone russischer Interessen wahrgenommen, in der äußerste Vorsicht geboten war", erläutert er gegenüber der DW. Die Situation wäre womöglich eine andere gewesen, wenn Putin nicht Lukaschenko gestützt und stattdessen eine neutrale Position eingenommen hätte.

Regime will Repressionen verbergen

Von den Massenprotesten sind in Belarus noch nicht einmal digitale Spuren mehr zu finden. Die Medien, die damals berichteten, sind heute geschlossen oder arbeiten vom Ausland aus. Doch selbst deren Webseiten werden von den belarussischen Behörden blockiert.

Aber auch viele Menschen haben ihre Fotos und Videos von den Ereignissen 2020 gelöscht, um den Behörden kein Material zu liefern, um Teilnehmer der Proteste ausfindig zu machen. Auch Artikel, Berichte, Archive und Beiträge in sozialen Medien sind verschwunden.

Gleichzeitig wird es für das Regime in Belarus immer schwieriger, das gewaltige Ausmaß der Repressionen zu verbergen. Seit 2020 wurden nach Angaben des Menschenrechtszentrums "Wjasna" in Belarus mindestens 8519 Menschen aus politischen Gründen strafrechtlich verfolgt und insgesamt mehr als 60.000 Menschen inhaftiert.

Nobelpreisträger Ales Bjaljazki vor einem belarussischen Gericht im Januar 2023Bild: Vitaly Pivovarchik/BELTA/AFP/Getty Images

Zu den bekanntesten Gefangenen zählt die zu elf Jahren Haft verurteilte Aktivistin und Flötistin Maria Kolesnikowa. Ihre Angehörigen haben bis heute keinen Kontakt zu ihr. Das gleiche gilt für den Bankier und Philanthropen Viktor Babariko, der eine 14-jährige Haftstrafe absitzt. Und der Menschenrechtsaktivist Ales Bjaljazki ist derzeit der einzige Nobelpreisträger weltweit, der in einer Strafkolonie sechs Tage die Woche arbeiten muss. "Bjaljazkis Gesundheitszustand verschlechtert sich, er hat Probleme mit seinem Sehvermögen und mit seinen Beinen", sagt im DW-Gespräch Leonid Sudalenko, ein ehemaliger politischer Gefangener und Bjaljazkis Kollege bei "Wjasna".

"Wenn Ihr wollt, nehmt sie!"

Noch heute werden Belarussen im Zusammenhang mit den Protesten von 2020 verfolgt. Seit Jahresbeginn wurden mehr als 1700 Menschen aufgrund verwaltungs- und strafrechtlicher sowie politisch motivierter Vorwürfe festgenommen. Und das sind nur die Zahlen, die Menschenrechtsaktivisten bekannt sind.

Maria Kolesnikowa bei einer Protestaktion in Minsk, August 2020Bild: AP Photo/picture alliance

Die Gründe für eine Inhaftierung sind vielfältig. Manch einer ist während der Proteste auf ein Foto geraten. Andere haben "extremistische" Webinhalte mit einem Like versehen - wobei in Belarus alle unabhängigen Medien als "extremistisch" gelten, darunter auch die DW. Manche haben im Web "falsche" Kommentare hinterlassen, sich bei den Wahlen 2020 für den "falschen" Kandidaten eingesetzt und Spenden überwiesen oder Pakete an politische Gefangene geschickt. Die Liste der "extremistischen" Verstöße ist lang. Beispielsweise wurde vor Kurzem ein Unternehmen, das Schmuckanhänger in Form einer Belarus-Karte herstellte, als "extremistisch" eingestuft.

In den vergangenen Monaten hat das Regime politische Gefangene in kleinen Gruppen freigelassen - insgesamt mehr als 300 Menschen. Im Juni 2025 war auch Sergej Tichanowski darunter, Blogger und Ehemann der Führerin der belarussischen demokratischen Kräfte, Swetlana Tichanowskaja. Er wurde am Tag des Treffens von Alexander Lukaschenko mit dem Sondergesandten von US-Präsident Donald Trump, Keith Kellogg, aus der Haft entlassen.

Das belarussische Regime macht heute keinen Hehl daraus, dass es politische Gefangene für Gegenleistungen des Westens freilassen würde. Er sei bereit, "mehrere tausend Menschen" zu übergeben, erklärte Lukaschenko am 31. Juli. "Wenn Ihr sie wollt, nehmt sie! Was gibt es im Gegenzug?", schrieb er nach dem Gespräch der Delegation aus den USA.

Was kann der Westen für Belarus tun?

Artyom Shraibman findet, der Westen könnte mehr Menschen in belarussischen Gefängnissen zur Seite stehen. "Er könnte aktiver um die Freilassung dieser Menschen verhandeln und Lukaschenko verschiedene Zugeständnisse in Bezug auf seinen Ruf und seine Diplomatie anbieten - Anrufe, Besuche und Kontakte." Theoretisch könnten die westlichen Länder noch weiter gehen, sagt er, und "über die Aufhebung einiger Sanktionen nachdenken, um eine Art Tausch mit Lukaschenko zur Beendigung der Migrationskrise und zur Freilassung politischer Gefangener zu erreichen".

"All dies wird die Situation in Belarus wahrscheinlich nicht radikal verändern", so der Experte. "Es könnte vielmehr die Aussichten und das Schicksal einzelner Menschen, einzelner Opfer dieses Regimes verändern. Dies liegt weitgehend in den Händen des Westens. Da aber Belarus keine Priorität hatte und auch keine hat, gibt es bisher keinen ernsthaften Willen, sich damit auseinanderzusetzen."

Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk

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